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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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herum.
    »Hab ich euch nicht gesagt, wenn
Kara im Haus ist, wird nicht herumgeschrien?!«
    »Mutter, warum hast du die rote
Weste angezogen?« wollte Şevket wissen.
    »Aber Mutter, Şevket hat mich
nachgemacht!« sagte Orhan.
    »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst
ihn nicht nachahmen? Was soll denn dieses schmutzige Ding hier?« Etwas, was von
Haut bedeckt war, lag in einer Ecke.
    »Aas«, sagte Orhan, »Şevket
hat's von der Straße geholt.«
    »Bringt das sofort wieder hin, wo
ihr's hergeholt habt!«
    »Şevket
soll's wegbringen!
    »Los, hab ich gesagt!«
    Als ich zornig an meiner Lippe zu
nagen begann, wie ich's immer tue, bevor sie von mir Prügel bekommen, erkannten
sie ängstlich den Ernst der Lage und machten sich davon. Hoffentlich kommen sie
schnell zurück, damit sie sich nicht erkälten.
    Kara mag ich am meisten von allen
Illustratoren, denn er liebt mich mehr als jeder andere, und ich kenne seine
Seele. Ich holte Papier und Stift hervor und schrieb in einem Zug, ohne nachzudenken:
    »Gut, ich werde Dich vor dem Ruf zum
Abendgebet im Haus des gehenkten Juden erwarten. Beende das Buch meines Vaters
so schnell wie möglich.«
    Hasan gab ich keine Antwort, denn sollte
er wirklich heute zum Kadi gehen, glaube ich nicht, daß er und sein Vater
sofort Männer sammeln und bei uns im Hause eindringen werden. Wollte er das
wirklich tun, würde er keinen Brief schreiben und auf Antwort warten, sondern
ohne Ankündigung über uns herfallen. Jetzt aber wartet er auf ein Wort von
mir, und erst wenn nichts kommt, wird er wahnsinnig werden, die Leute
zusammenrufen und auf uns losgehen. Glaubt nur nicht, ich hätte keine Angst
vor ihm! In Wahrheit vertraue ich darauf, daß Kara mich vor ihm beschützt. Aber
ich muß euch auch sagen, was mir in diesem Augenblick am Herzen liegt:
Wahrscheinlich ist meine Furcht vor Hasan nicht allzugroß, denn ich mag auch
ihn.
    Wenn ihr euch ärgert und fragt, was
hier »mögen« heißt, dann muß ich euch recht geben. In den Jahren, als wir alle
unter einem Dach auf die Rückkehr meines Ehemannes aus dem Krieg gewartet
haben, ist mir nicht entgangen, wie schwach, erbärmlich und auf seinen Vorteil
bedacht dieser Mann ist. Doch Ester sagt, er verdiene jetzt viel Geld, und an
ihren hochgezogenen Augenbrauen erkenne ich, daß sie die Wahrheit spricht. Da
er nun Geld und somit Selbstvertrauen hat, glaube ich, daß all die
Schlechtigkeit, die Hasan so abstoßend machte, verschwunden und dieser seltsam
dunkle, dämonische Charakterzug an ihm zum Vorschein gekommen sein muß, der mich
anzieht. Ich habe diesen Zug an ihm in den Briefen entdeckt, die er mir
beharrlich zuschickt.
    Kara wie auch Hasan haben beide viel
gelitten, weil sie mich lieben. Kara ist für zwölf Jahre in die Ferne gezogen,
war verschollen und verbittert. Hasan hat mir jeden Tag Briefe gesandt, deren
Ränder er mit Vogel- und Gazellenbildern verzierte. Weil ich ständig diese
Briefe las, lernte ich zuerst, ihn zu fürchten, und später auch, neugierig zu
werden.
    Da ich Hasans Interesse an allem,
was mich betraf, sehr wohl kannte, wunderte es mich nicht, daß er über meinen
Traum von der Leiche meines Mannes unterrichtet war. Nur habe ich Ester im Verdacht,
daß sie Hasan meine für Kara bestimmten Briefe zu lesen gibt. Aus diesem Grund
ließ ich meine Nachricht an Kara nicht durch Ester überbringen. Ihr wißt, ob
mein Verdacht berechtigt ist.
    »Wo seid ihr so lange gewesen?«
fragte ich die Kinder, als sie zurückkamen.
    Doch sie verstanden gleich, daß ich
ihnen nicht wirklich zürnte. Von Orhan unbemerkt, zog ich Şevket beiseite,
an den Rand des dunklen Wandschranks. Ich nahm ihn auf den Schoß, küßte seinen
Nacken, sein Haar und seinen Hals.
    »Du hast dich erkältet, mein Junge«,
sagte ich, »leg deine hübschen Hände in meine, damit Mutter sie aufwärmt.«
    Seine Hände stanken nach Aas, aber
ich sagte nichts. Ich drückte seinen Kopf an meine Brust und umarmte ihn fest.
Bald darauf war ihm wärmer geworden, und er schmiegte sich an mich wie ein vor
Behagen schnurrendes Kätzchen.
    »Liebst du eigentlich deine Mutter
sehr?«
    »Mmmhmm.«
    »Ja?«
    »Ja!«
    »Mehr als alle anderen?«
    »Ja.«
    »Dann werde ich dir etwas sagen«,
erklärte ich, als verriete ich ein Geheimnis. »Doch du darfst es keinem
weitersagen, hörst du?« Und ich flüsterte ihm ins Ohr: »Ich liebe dich auch
mehr als jeden anderen, verstehst du?«
    »Mehr als Orhan?«
    »Ja, mehr als Orhan. Er ist noch
klein, wie ein Vögelchen, versteht

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