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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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ein Geist schloß ich die Tür mit
leisem Klicken. Lautlos durchquerte ich den Hof, hielt inne, als ich auf der
Straße war, und blickte durch meinen Schleier zurück, und es schien mir, als
sei unser Haus nicht das unsere.
    Niemand war auf der Straße, nicht
einmal die Katzen. Einzelne Schneeflocken fielen herab. Schaudernd betrat ich
den verlassenen Garten, in den nie die Sonne drang. Es roch nach faulen
Blättern, Feuchtigkeit und Tod, doch sowie ich das Haus des gehenkten Juden
betreten hatte, fühlte ich mich wie daheim. Man sagt, hier träfen sich nachts
die Dämonen, machten Feuer im Herd und vergnügten sich ausgelassen miteinander.
Der Laut meiner Schritte in dem leeren Haus war beängstigend, und so wartete
ich reglos. Es gab ein leises Geräusch im Garten, doch gleich darauf war es
wieder vollkommen still. Ein Hund bellte in der Nähe; ich erkenne alle Hunde
in unserem Viertel an ihrem Bellen, doch ich konnte nicht ausmachen, wer
dieser war.
    In der nun folgenden Stille spürte
ich etwas: Es schien noch jemand im Haus zu sein, und ich rührte mich nicht,
damit dieser Jemand meine Schritte nicht hörte. Einige Leute gingen plaudernd
auf der Straße vorbei. Ich dachte an Hayriye und die Kinder; hoffentlich
erkälteten sie sich nicht. Wieder war es still, und ich fühlte Reue in mir
aufsteigen. Kara würde nicht kommen, ich hatte einen Fehler gemacht, mußte nach
Hause gehen, bevor mein Stolz noch mehr verletzt wurde. Angstvoll bildete ich
mir ein, Hasan sei mir gefolgt, als ich im Garten ein Rascheln hörte. Die Tür
ging auf.
    Plötzlich wechselte ich rasch meinen
Standort. Ich weiß nicht, warum ich es tat, doch sowie das Fenster zum Garten,
durch das die Helle hereindrang, zu meiner Rechten lag, verstand ich, daß Kara
mich in dem Lichtschein, der mich traf – wie mein Vater es ausdrückte –, »vom
Geheimnis der Schatten umgeben« würde sehen können. Ich verschleierte mein
Gesicht, horchte auf die Schritte und wartete.
    Als Kara über die Schwelle trat und
mich sah, tat er einige Schritte und hielt an. So tauschten wir Blicke
miteinander, über den Abstand von fünf, sechs Schritten hinweg. Er sah noch
gesünder und kräftiger aus, als er mir durch das Loch im Schrank erschienen
war. Wir schwiegen.
    »Hebe deinen Schleier«, flüsterte
er. »Gewähr mir die Bitte.«
    »Ich bin verheiratet, warte auf
meinen Ehemann.«
    »Hebe den Schleier«, sagte er im
gleichen Ton. »Er wird nie mehr wiederkehren.«
    »Hast du mich hergerufen, um mir das
zu sagen?«
    »Nein, um dich sehen zu können.
Zwölf Jahre lang habe ich an dich gedacht. Hebe den Schleier, meine Liebste,
damit ich dich einmal sehe.«
    Ich hob den Schleier. Es gefiel mir,
wie er lange Zeit, ohne einen Laut zu äußern, in mein Gesicht, in meine Augen
schaute.
    »Die Ehe und die Kinder haben dich
noch schöner werden lassen. Dein Gesicht ist so ganz anders geworden, als ich
es in Erinnerung hatte.«
    »Wie hast du dich an mich erinnert?«
    »Schmerzvoll. Denn ich meinte, wann
immer ich an dich dachte, mich nur an dein Phantasiebild zu erinnern, nicht
aber an dich selbst. Du weißt doch noch, wie wir in unserer Kindheit über Hüsrev
und Şirin gesprochen haben, die einer des anderen Bildnis sehen und sich
ineinander verlieben, nicht wahr? Warum aber verliebte sich Şirin nicht
beim ersten Blick auf das Bild in den Zweigen des Baumes und mußte es erst
dreimal gesehen haben, ehe sie in Liebe entbrannte? Du sagtest, in den Märchen
geschehe alles dreimal. Ich aber meinte, die Liebe müsse sich schon am ersten
Bild entzünden. Wer aber wäre imstande gewesen, Hüsrevs Bildnis so wirklich und
so genau zu zeichnen, daß man sich in ihn verlieben, daß man ihn erkennen
konnte? Darüber haben wir nie gesprochen. Hätte ich während dieser zwölf Jahre
ein so wirkliches Abbild deines unvergleichlichen Antlitzes bei mir gehabt,
wäre mein Kummer vielleicht erträglicher gewesen.«
    Er fand noch viele schöne Worte in
diesem Stil, für die Fabeln von der Liebe, die beim Anblick eines Bildes
entflammt, und für das Ausmaß der Schmerzen, die er meinetwegen ertragen hatte.
Da meine Aufmerksamkeit unterdessen von seinen mir stetig näher kommenden
Schritten gefesselt war, blieben nicht alle Worte in meinem Bewußtsein, sondern
mischten sich geradewegs unter meine Erinnerungen. Ich würde mich später an
jedes einzelne erinnern und darüber nachdenken. Jetzt spürte ich nur den
Zauber der Rede in meinem Innern und überließ mich ihm. Ich fühlte

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