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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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nichts. Du bist klüger, du begreifst.« Ich
roch an seinem Haar und setzte einen Kuß darauf. »Deswegen werde ich dich jetzt
um etwas bitten. Gestern hast du Kara Efendi heimlich ein leeres Papier
zugesteckt. Heute, jetzt, gibst du ihm wieder eins, hörst du?«
    »Er hat meinen Vater getötet.«
    »Was?«
    »Er hat meinen Vater getötet. Er hat
es selbst gesagt gestern im Haus des gehenkten Juden.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Ich habe deinen Vater getötet, hat
er gesagt. Ich habe viele Menschen getötet, hat er gesagt.«
    Es geschah unerwartet. Gleich darauf
war Şevket mir vom Schoß geglitten und weinte. Warum weint der Junge
jetzt? Nun gut, ich habe mich wahrscheinlich soeben nicht beherrschen können
und ihm eine Ohrfeige versetzt. Niemand soll denken, mein Herz sei aus Stein.
Doch es hat mich aufgebracht, daß so von einem Mann gesprochen wird, den ich zu
heiraten gedenke, damit es ihnen, den Kindern, wohl ergehe.
    Auf einmal tat's mir leid, daß mein
armer Waisenjunge immer noch weinte, und auch mir kamen fast die Tränen. Wir
umarmten uns. Ab und zu schluchzte er noch, aber mußte er wegen dieser Ohrfeige
wirklich so furchtbar weinen? Ich streichelte sein Haar.
    Und so hat alles angefangen: Ihr
wißt, wie ich gestern im Gespräch mit meinem Vater über den Tod meines
Ehemanns geredet habe, den ich im Traum sah. Eigentlich hatte ich ihn, wie so
oft in den vier Jahren, da ich vergebens auf seine Rückkehr aus den Perserkriegen
wartete, nur einmal flüchtig gesehen, und es gab auch einen Toten dabei, doch
ob er es war, ließ sich nicht erkennen.
    Träume sind auch stets für etwas
anderes gut. In Portugal, wo Esters Großmutter herkommt, sollen die Träume den
Ketzern gedient haben, um mit dem Satan Beischlaf zu üben. Wenn damals die
Menschen aus Esters Sippe ihr Judentum verleugneten und erklärten, gut
christlich-katholisch zu sein wie ihre Umgebung, dann glaubten es die
jesuitischen Folterer der portugiesischen Kirche nicht und folterten sie alle
so, daß nicht nur die Teufel und Dämonen aus ihren Träumen einer nach dem
anderen zum Vorschein kamen, sondern die Juden unter den Folterqualen auch nie
gesehene Träume eingestanden, damit man sie alle verbrennen konnte. Das heißt,
dort müssen die Träume dazu gedient haben, daß die Menschen mit dem Teufel
schliefen, damit man sie dann beschuldigen und verbrennen konnte.
    Träume sind
gut für drei Dinge.
    Elif: Du wünschst dir etwas. Doch man
erlaubt dir nicht einmal das Wünschen. Dann sagst du, ich habe es im Traum
gesehen. So wünschst du dir, was du willst, wie ungewollt.
    Be: Du willst einem etwas Böses
antun. Zum Beispiel jemanden verleumden. Dann sagst du, ich habe geträumt, daß
diese Dame Ehebruch begeht; oder auch, daß man einen Krug Wein nach dem anderen
zu jenem Pascha trägt. Selbst wenn die anderen es nicht glauben, wird
derjenigen oder demjenigen sofort ein Teil der Schlechtigkeit zugeschrieben,
nur weil man darüber geredet hat.
    Cim: Du willst etwas, weißt aber selbst nicht,
was du willst. Dann berichtest du von einem wirren Traum. Sie werden ihn sofort
deuten und dir sagen, was du dir wünschen mußt und was sie dir geben können.
Sie sagen zum Beispiel: Du brauchst einen Mann, ein Kind, ein Haus ...
    Diese Träume sind niemals das, was wir
wirklich im Schlaf sehen. Denn jeder behauptet, nachts im Traum gesehen zu
haben, was er am hellichten Tage erträumt hat, damit es ihm nütze. Und die wahren
nächtlichen Träume erzählen nur die Dummen. Dann verspotten sie dich entweder,
oder sie legen den Traum wie üblich zum Schlechten aus. Die wahren Träume nimmt
keiner ernst, auch nicht der Träumende selbst. Oder ihr etwa?
    Als ich durch einen wie nebenbei
erzählten Traum andeuten wollte, daß mein Ehemann womöglich gestorben sei,
erklärte mein Vater zuerst, man könne diesen Traum nicht als Hinweis auf das
wahre Geschehen deuten. Nach seiner Heimkehr vom Begräbnis aber schloß Vater
plötzlich aus diesem Traum, daß mein Ehemann nicht mehr am Leben war. Auf diese
Weise blieb es nicht allein dabei, daß jeder an den Tod meines vier Jahre lang
nicht sterbenden Mannes in einem Traum glaubte, sondern dieser Tod auch so hingenommen
wurde, als sei er öffentlich erklärt worden. Da begriffen die Kinder, daß sie
wahrhaftig Waisen waren, und empfanden bittere Trauer.
    »Träumst du niemals?« fragte ich Şevket.
    »Doch«, sagte er lächelnd. »Vater
kommt nicht wieder, aber am Ende heirate ich dich.«
    Mit seiner schmalen Nase,

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