Pamuk, Orhan
mit
uns weitergehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie, wie
es die Regeln des Schachspiels der Liebe fordern, hinterließ in dem alten
Garten ihre hübschen, vom Schnee rasch wieder gelöschten Fußspuren und ging
lautlos fort.
28
Sie werden mich Mörder nennen
Ganz sicher habt ihr auch schon erlebt,
worüber ich jetzt sprechen werde. Während ich mich durch die endlosen Straßen
von Istanbul bewege, mir in einem Gasthaus einige Happen gebackenes Gemüse
einverleibe oder auch, die Augen zusammengekniffen, meine ganze Aufmerksamkeit
den Schleifen irgendeines Randmotivs im Papyrusstil widme, ist mir plötzlich
zumute, als hätte ich die Gegenwart schon einmal erlebt. Als wollte ich sagen:
Ich ging über den Schnee die Straße entlang, während ich über den Schnee die
Straße entlanggehe.
Die außergewöhnlichen Dinge, die ich
schildern werde, spielten sich sowohl in unserer jetzigen Zeit ab als auch
scheinbar in der Vergangenheit. Es war gegen Abend, wurde dunkel, hin und
wieder fiel eine Schneeflocke, und ich ging durch die Straße des Oheim Efendi.
Im Gegensatz zu manch anderer Nacht
war ich vorsätzlich hergekommen und wußte, was ich wollte. Diesmal hatten mich
meine Beine nicht wie von selbst in diese Straße geführt, wie in anderen
Nächten, wenn ich zerstreut umherlief und an andere Dinge dachte – an die
Herater Bucheinbände aus der Zeit Timurs, die mit Medaillons geschmückt, aber
nicht goldgeprägt waren, oder daran, wie ich meiner Mutter zum erstenmal
berichten konnte, daß ich für ein Buch siebenhundert Asper eingenommen hatte,
oder auch an meine Sünden und meine Dummheiten. Ich hatte es mir gut überlegt
und war zielstrebig hierhergekommen.
Niemand würde mir aufmachen,
fürchtete ich, doch das schwere Hoftor öffnete sich wie von selbst, als ich es
nur einmal leicht berührte, um anzuklopfen, und ich begriff, daß Allah einmal
mehr auf meiner Seite war. Die steinerne Vorhalle, die ich nächtens
durchquerte, wenn ich wegen der neuen Bilder für das Buch des Oheim Efendi
herkam, war leer. Rechts der Brunnen mit dem Eimer, auf dem ein Spatz hockte,
den die Kälte nicht zu kümmern schien, weiter hinten der, warum auch immer, zu
dieser Abendstunde noch kalte Herd, links der nur für die Pferde der Gäste bestimmte
Stall, alles war an seinem Platz. Ich betrat das Haus durch die offene Tür
neben dem Stall und stieg mit geräuschvollen Schritten und hustend die
hölzerne Treppe hinauf.
Mein Husten blieb ohne Antwort, auch
der Lärm meiner schmutzigen Schuhe, die ich oben am Eingang zum Flur auszog und
neben die anderen vor der Tür aufgereihten Paare stellte. Als ich die beiden,
jene grünen und feinen Dinger, die wahrscheinlich Şeküre gehörten, nicht
wie sonst immer unter den anderen Schuhen sah, kam mir der Gedanke, daß
vielleicht niemand zu Hause war.
Sofort schlich ich in das erste
Zimmer rechts, in dem des Nachts vermutlich Şeküre und ihre Kinder
engumschlungen schliefen. Ich befingerte die Matratzen, das Bettzeug, hob den
Deckel einer Truhe hoch, öffnete die federleichte Tür eines Schranks und
schaute hinein. Während ich mir vorstellte, daß dieses zarte Mandelaroma im
Zimmer der Duft von Şeküres Haut sein müßte, fiel aus dem Oberteil des
offenen Schranks ein Kissen heraus, das dort eingeklemmt gewesen war, traf
zuerst meinen törichten Kopf und dann die Kupferkanne und die Gläser neben
mir. Bei einem solchen Lärm merken wir gewöhnlich, daß es im Zimmer stockdunkel
ist – ich merkte, daß es kalt war.
»Hayriye«, rief der Oheim Efendi von
drinnen her, »Şeküre, wer von euch ist da?«
Im Nu verließ ich das Zimmer, ging
schräg über den Flur, betrat das Zimmer mit der blauen Tür, in dem wir während
des Winters an dem Buch des Oheim Efendi arbeiteten, und sagte: »Ich bin's,
Oheim Efendi, ich.«
»Und wer bist du?«
In diesem Augenblick begriff ich,
wie nützlich die uns von Meister Osman in jungen Jahren verliehenen Beinamen
für den Oheim Efendi waren, wenn er sich hinterlistig über uns lustig machen
wollte. Und wie ein hochmütiger Kalligraph, der in den Kolophon auf der letzten
Seite eines stattlichen Buches sein Pseudonym, woher er kommt, den Namen des
Vaters und »Euer armer sündiger Untertan« einsetzt, so sprach ich, jede Silbe
betonend, langsam meinen vollen Namen aus.
»Ha?« fragte er zuerst und sagte
dann: »Ha!«
Dann versank er für kurze Zeit, die
doch ewig zu dauern schien, in Schweigen, was mich an ein syrisches Märchen aus
meiner Kindheit
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