Pamuk, Orhan
Vater, gemeinsam in einem Haus wohnen?«
»Ich weiß nicht.«
»Denk sofort darüber nach. Viel Zeit
bleibt dir nicht, glaub mir. Vater ahnt das Heraufziehen schlimmer Dinge, und
ich gebe ihm recht. Würdest du sagen, falls Hasan uns zu Hause mit seinen Männern
und den Janitscharen überfällt und meinen Vater dem Kadi vorführen läßt, daß du
die Leiche meines Mannes gesehen hast? Du kommst aus dem Land der Perser, sie
würden dir glauben.«
»Ich sage es, doch ich habe ihn
nicht umgebracht.«
»Schon gut. Würdest du, damit ich
zur Witwe erklärt werde, gemeinsam mit einem anderen Zeugen vor dem Kadi
aussagen, du hattest auf einem Schlachtfeld im Land der Perser die blutige
Leiche meines Ehemannes gesehen?«
»Ich habe zwar nichts gesehen, mein
Leben, doch um deinetwillen sage ich das.«
»Liebst du meine Kinder?«
»Ich liebe sie.«
»Sag, was du an ihnen liebst.«
»An Şevket die Stärke,
Entschlossenheit, Ehrlichkeit, Vernunft und Beharrlichkeit«, sagte ich. »An
Orhan das Verletzliche, Zarte und seine Klugheit. Es sind deine Kinder, das
ist es, was ich an ihnen liebe.«
Sie lächelte ein wenig und vergoß
ein paar Tränen, meine schwarzäugige Liebste. Dann ging sie mit der gezielten
Eile dessen, der in kurzer Zeit viele Dinge erledigen möchte, sofort auf ein
anderes Thema über.
»Das Buch, das bei meinem Vater in
Auftrag gegeben wurde, muß fertiggestellt und unserem Padischah übergeben
werden. All jenes Unheil, das sich um uns zusammenbraut, hängt mit diesem Buch
zusammen.«
»Was gibt es noch für Teufeleien
außer dem Mord an Fein Efendi?«
Diese Frage gefiel ihr nicht. Da sie
aufrichtig erscheinen wollte, sagte sie, ohne wahrhaftig aufrichtig zu sein:
»Die Anhänger des Nusret Hodscha von Erzurum verbreiten, daß in dem Buch meines
Vaters Unglaube und fränkische Anschauungen enthalten seien. Ob wohl die
Buchmaler, die in unser Haus kommen, eifersüchtig aufeinander sind und Intrigen
spinnen? Du warst bei ihnen, weißt das besser.«
»Dieser Bruder deines seligen
Ehemannes, hat der etwas zu tun mit den Buchmalern, dem Buch deines Vaters oder
den Anhängern des Nusret Hodscha, oder hält er sich zurück?« wollte ich wissen.
»Er hat nichts damit zu tun, aber
ein zurückhaltender Mensch ist Hasan ganz und gar nicht!« erklärte sie.
Etwas geriet ins Stocken,
merkwürdig, mysteriös.
»Habt ihr euch nicht an die Regel
gehalten, nach der du dich nicht zeigen darfst?«
»Soweit man sie in einem Haus mit
zwei Zimmern einhalten kann.«
In diesem Augenblick fingen einige
Hunde, die hingebungsvoll mit irgend etwas beschäftigt waren, in der Nähe
heftig zu bellen an.
Ich sagte nicht: Warum ließ dein
seliger Mann, der so viele Kämpfe bestanden, so viele Siege errungen und sogar
ein Lehen erhalten hat, dich mit seinem Bruder in einem Zweizimmerhaus wohnen,
sondern wagte nur, meine Jugendliebe schüchtern zu fragen: »Warum hast du
deinen Mann geheiratet?«
»Irgendwen mußte ich natürlich
heiraten«, meinte sie. Das stimmte, und sie sprach dann lobend von ihrem
Ehemann, ohne mich zu quälen, und erklärte kurz auf kluge Art und Weise, warum
sie ihn geheiratet hatte: »Du bist fortgegangen und kamst nicht wieder. Es mag
ja als Zeichen der Liebe gelten, wenn einer sich grollend abwendet, doch ein
gekränkter Liebhaber ist nicht nur langweilig, er hat auch keine Aussicht auf
Erfolg.« Auch das stimmte, war aber kein Grund dafür, einen Räuber zum Ehemann
zu wählen. Aus ihrem schlauen Blick ließ sich unschwer erkennen, daß Şeküre
mich wie jeder in kurzer Zeit vergessen hatte, nachdem ich von Istanbul
fortgegangen war. Ich hielt diese faustdicke Lüge für etwas, was mein gebrochenes
Herz zumindest ein wenig instand setzen und was ich als Zeichen guten Willens
dankbar begrüßen sollte, und begann ihr zu schildern, wie es mir auf meinen
Reisen nie gelungen war, sie aus meinen Gedanken zu vertreiben, und wie mir ihr
Bild nächtelang immer wieder auf gespenstische Weise erschienen war. Es waren
meine tiefsten und geheimsten Leiden, die ich wohl niemand anders hätte
anvertrauen können, und sie entsprachen der Wirklichkeit, doch wie ich im
gleichen Augenblick erstaunt bemerkte, waren sie keineswegs ganz aufrichtig.
Damit das, was ich in jenem
Augenblick fühlte und wünschte, recht verstanden wird, muß ich hier auf die
Bedeutung des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und Aufrichtigkeit eingehen,
der mir zum erstenmal im Leben auffiel, das heißt, ich muß zeigen, wie der
Mensch
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