Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Blech- und Messinggeschirr stand auf den provisorischen Tafeln, auf den Tellern lagen Gebeinreste. Viele der Untoten trugen nicht ihre üblichen Lumpen, sondern zerschlissene Reste von Abendkleidern, feinen Gehröcken, kostbaren Roben. Es fehlte nur noch die Kapelle, die für die musikalische Untermalung sorgte.
Es war eine untote Abendgesellschaft, die schauerliche Nachahmung eines Hofstaates. Lucien hatte schon so manche scheußliche Szenerie gesehen und war einiges gewohnt, trotzdem richteten sich beim Anblick der tafelnden Ghule die Härchen an seinen Armen auf.
Er hob die Lampe. Am Ende des Tisches aus Steinsärgen thronte der Madenkönig.
Der Anführer der untoten Schar sah aus wie ein gewöhnlicher Ghul, abgesehen von einem abstoßenden Detail: Ständig krochen Insektenlarven und anderes Getier über seinen Körper und verschwanden in Öffnungen seines verwesenden Leibes. Er trug einen schwarzen Anzug, der einst stilvoll und teuer gewesen sein mochte, nun aber voller Risse war, durch die man bleiche Knochen und graue Haut sah. Die Manschettenknöpfe glänzten stumpf, in seinem Zylinder klaffte ein Loch wie von einer Pistolenkugel.
Vorsichtig näherte sich Lucien der Tafel. Es war das erste Mal, dass er den Madenkönig mit eigenen Augen sah, aber er kannte die Geschichten, die man sich über ihn erzählte. Das Oberhaupt der Ghule galt als verschlagen, gemein und viel gefährlicher als seine Untertanen.
Der Untote nahm jedoch keinerlei Notiz von Lucien. Sein ganzes Interesse galt einem kleinen Gegenstand in seiner
Klauenhand – einer Taschenuhr. Wie gebannt betrachtete er das Bild im Deckel des goldenen Chronometers.
»Ich suche Aziel«, sprach Lucien ihn an. »Du weißt doch sicher, wo ich ihn finde.«
Der Madenkönig hob den Kopf und musterte ihn mit fahl glühenden Augen. Eine schwer zu deutende Regung erschien darin. Neugier? Belustigung? Schließlich widmete sich der Untote wieder seiner Uhr.
»Er wurde aus den Traumlanden vertrieben. In seinem Varieté ist er nicht, auch nicht in einem anderen Unterschlupf. Also, wo versteckt er sich?«
Als der Madenkönig wieder nicht antwortete, trat Lucien mit hoch erhobener Lampe näher. Die Ghule fauchten, einige flohen in die Schatten. Ihr König sprang von seinem Lehnstuhl auf und bleckte die Fangzähne, bereit, sich auf ihn zu stürzen.
Lucien verbarg seine Furcht. »Ich gehe erst weg, wenn ich es weiß.«
Flüstern und Krächzen erfüllte das Beinhaus. Bei dem Angriff auf Lady Sarkas Palast hatten die Spiegelmänner viele Ghule vernichtet, doch es waren immer noch mehr als genug da, um ihn zu umzingeln und binnen weniger Sekunden in Stücke zu reißen. Er durfte es nicht übertreiben. Wenn man Ghule zu sehr reizte, hielt sie nicht einmal gleißendes Licht von einem Angriff ab.
»Ich bin hier«, erklang in diesem Moment eine Stimme aus der Dunkelheit.
Aziel! Vor Erleichterung wäre Lucien beinahe zu ihm gestürzt, hielt sich jedoch zurück. Aziel und er waren zuletzt Feinde gewesen. Er konnte nicht vorhersagen, wie ihr Wiedersehen verlief.
Wachsam ging er zu dem Winkel, aus dem die Stimme kam. In einer Nische lag eine Gestalt, auf Lumpen gebettet. Sie versuchte,
sich aufzusetzen, war jedoch zu schwach und sank zurück auf das Lager.
Aziel sah schrecklich aus, so abgemagert und entstellt, dass Lucien den letzten Herrscher der Träume fast nicht erkannt hätte. Sein Gesicht glich einem Schädel, sein ehemals massiger Leib einem Skelett, über das sich ledrige Haut spannte. Sein Haar war ausgefallen; vereinzelte weiße Strähnen klebten ihm an Schläfen und Wangen.
»Bei der ewigen Nacht, Aziel …«, murmelte Lucien erschüttert.
»Dreh die Lampe herunter. Das Licht schmerzt in meinen Augen.« Aziels Stimme klang schwach, brüchig, alt. »Fürchte dich nicht vor den Ghulen. Sie werden dir nichts tun.«
Lucien konnte spüren, dass die Untoten und ihr Anführer ihn lauernd beobachteten. Widerstrebend dimmte er das Licht.
Er setzte sich auf eine Urne. »Wie hast du sie dazu gekriegt, dir zu gehorchen?«
»Der Madenkönig ist mir dankbar. Ich habe ihm etwas gegeben, das ihm sehr viel bedeutet.«
»Etwa die goldene Uhr? Was soll ein Ghul mit einer Uhr?«
»Ich glaube, sie erinnert ihn an früher. Als er noch ein Mensch gewesen ist.«
Niemand wusste, wieso die Ghule vor einigen Jahren aufgetaucht waren und was sie zu dem gemacht hatte, das sie heute waren – nicht einmal sie selbst. Es schien, als hätten sie es im Lauf der Zeit vergessen.
»Ist
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