Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Risse.«
»Menschen, die nicht träumen können, sind gefährlich«, bestätigte Aziel. »Das Schlechte in ihnen gewinnt allmählich die Oberhand. Zorn. Neid. Habgier. Bis sie schließlich den Verstand verlieren. Das schwächt die Lichtmauern.«
Lucien schloss für einen Moment die Augen. Es war schlimmer, viel schlimmer, als er je für möglich gehalten hätte. »Kann man es aufhalten?«
»Nein. Niemand vermag das.«
»Nicht einmal Lady Sarka?«
»Allein kann sie nichts ausrichten. Dass sie vergeblich versucht, ihrer Kräfte Herr zu werden, beschleunigt den Verfall der Träume noch.«
»Wir müssen in die Anderwelt reisen. Müssen den Harlekin überzeugen, zurückzukehren. Er wird nicht zulassen, dass Lady Sarka die Träume zerstört.«
»Es kümmert ihn nicht, was sie tut. Und es kümmert ihn nicht, was aus den Menschen wird.«
»Dann sag mir, was ich stattdessen unternehmen soll«, erwiderte Lucien.
»Geh zur Anderwelt, zu unserem Volk. Vergiss die Menschen und finde deinen Frieden.«
»Ich kann sie nicht vergessen.«
Ein Lächeln stahl sich auf Aziels Gesicht. »Ja. Das dachte ich mir.«
»Ich finde einen Weg«, sagte Lucien ohne rechte Überzeugung. »Ich lasse nicht zu, dass es so weit kommt.«
»Lucien, der Meisterdieb. Auf seine alten Tage wird er noch zum Wohltäter und Helden.«
Der einstige Albenherrscher musste wieder husten, schlimmer diesmal. Lucien half ihm, indem er seinen Kopf stützte und ihm etwas von dem Wasser gab, das neben der Nische in einem Zinnkrug bereitstand.
»Ich habe eine Bitte, alter Freund«, krächzte Aziel, als die Hustenkrämpfe nachließen. »Ich sterbe bald, ich spüre es. Bleib bei mir, bis das Ende kommt.«
»Unsinn«, sagte Lucien. »Niemand stirbt. Ein paar Tage Ruhe und du kommst wieder zu Kräften.«
»Sieh mich an. Glaubst du das wirklich?«
Er schwieg. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Aziels Zustand war zu schlecht, als dass er sich je wieder erholen könnte. Nicht einmal eine rasche Flucht in die Anderwelt hätte ihn jetzt noch retten können.
»Nun«, meinte der ältere Alb, »willst du das für mich tun?«
»Ja«, antwortete Lucien.
Und so saß er bei Aziel, gab ihm zu trinken, tupfte ihm den Schweiß von der Stirn und lauschte seinem Atem, während der einstige Albenkönig schwächer und schwächer wurde. Es schien, als hätte dieser nur auf Luciens Besuch gewartet, um Abschied von der Welt zu nehmen. Stunde um Stunde verstrich, und aus Aziel wich das Leben, jede Minute ein wenig
mehr. Anfangs lächelte er noch über die Geschichten aus alter Zeit, die Lucien erzählte, doch bald schon war er sogar dafür zu schwach. Schließlich lag er reglos da, atmete flach, und seine Lider flatterten.
»Adieu, mein Freund«, flüsterte Lucien.
Und Aziel starb. Über Bradost ging die Sonne auf, vermochte den Nebel in den Gassen jedoch nicht zu durchdringen. Die Ghule nagten an den Knochen, warfen gierige Blicke zur Nische, freuten sich auf frisches Fleisch. Lucien band sich die Lampe an den Gürtel, hob den Leichnam seines Herrschers von seinem Lager aus Lumpen und trug ihn durch den Saal, fort vom Hof des Madenkönigs.
Er war nun der letzte der Alben, und er schritt einer ungewissen Zukunft entgegen.
32
Der schwimmende Palast
N ebel umgab die Plattform von Vorod Khorojs Haus, so dicht und zäh, dass man kaum die Klippen und die Felsen der Steilküste erkennen konnte. Sämtliche Geräusche verloren sich darin, der Lärm des Hafens, sogar das Rauschen der Brandung. Irgendwo im Osten erahnte Liam die aufgehende Sonne, ein formloses Glühen inmitten der Schwaden. Es war, als treibe Khorojs Palast im Nichts, vollständig abgeschnitten von der Welt.
Liam stand am Rand der Plattform, die Hände auf dem Messinggeländer, und atmete tief durch. Keiner von ihnen hatte in der Nacht geschlafen; bis in die frühen Morgenstunden hatten sie versucht, den alten Text zu verstehen, den Khoroj für sie übersetzte. Die salzige Luft der Bucht tat ihm gut, half ihm, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Seine Augen brannten, seine Schläfen pochten, in seinem Magen rumorte der viele Kaffee, den er getrunken hatte – doch er war nicht müde. Sein ganzer Körper schien zu vibrieren vor Aufregung, vor Erschütterung. Obwohl er immer noch nicht richtig glauben konnte, wovon das Buch berichtete. Und was das für Bradost bedeutete.
Wenn du doch nur hier sein könntest, Vater , dachte er. Du hast es von Anfang an geahnt.
Er ging zurück zu den anderen.
An der Eingangstür
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