Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
dem Dämon, allerdings bot die Leiche keinen schönen Anblick, weswegen sie sofort wieder wegsah.
»Hilf mir, ihn zu begraben«, sagte Lucien zu ihrem Vater. »Wenn wir fertig sind, brechen wir auf.«
16
Der Schreiende Fluss
M üde stieg Vivana zu Ruac auf das kleine Felsplateau und betrachtete das Meer aus goldenem Dunst. Sie vermochte nicht zu sagen, wie weit die Schlucht war, die sich vor ihr erstreckte – weit genug, dass man die gegenüberliegende Seite nicht sehen konnte. Das Gebirge brach auf einer Breite von mehreren Meilen senkrecht ab, als wäre es von einer titanischen Axt durchschlagen worden. Auch die Tiefe der Kluft ließ sich nicht abschätzen, denn nach fünfzig oder hundert Schritt wurde der Dunst so dicht, dass sich die Felswand und die Klippen, die hier und da wie Reißzähne aufragten, darin verloren.
So ähnlich hatte sie sich immer das Ende der Welt vorgestellt.
Der Wind bauschte ihr Haar auf, und sie schlang die Arme um den Oberkörper. Der Anblick der gewaltigen Schlucht erfüllte sie mit Ehrfurcht, mit einem Gefühl von Verlorenheit. Welche Mächte auch immer all das geschaffen hatten – dagegen war sie nur ein Staubkorn, unbedeutend und klein.
Irgendwo dort unten floss der Schreiende Fluss. Die Hoffnung, Liam bald wiederzusehen, wurde so stark, dass es schmerzte. Gleichzeitig wuchs ihre Angst um ihn, denn seit seiner Ankunft im Pandæmonium konnte alles Mögliche geschehen sein. Dass sie ihn auf Anhieb fanden, war unwahrscheinlich.
Sie kletterte vom Felsen und forderte Ruac auf, mitzukommen. Tragen konnte sie ihn nicht mehr, denn dafür war er inzwischen zu schwer. Glücklicherweise tat er meistens, was sie sagte. Mit dem Tatzelwurm im Schlepptau ging sie zu ihrem Vater und Lucien, die bei ihrem Gepäck warteten. Die beiden Männer hatten kaum gesprochen, seit sie von der alten Bergfestung aufgebrochen waren. Auch jetzt schwiegen sie. Niemand, der diese Schlucht und das Dunstmeer unter dem glühenden Himmel erblickte, blieb davon unberührt, nicht einmal Lucien, der in seinem langen Leben gewiss schon vieles gesehen hatte.
»Gibt es einen Weg nach unten?«, erkundigte sich der Alb.
»Schwer zu sagen«, antwortete Vivana. »Bei all dem Dunst kann man kaum etwas erkennen.«
»Auf der Karte ist ein Abstieg verzeichnet, der zu einer Brücke führt. Eine Treppe, falls die Kritzelei nicht symbolisch gemeint ist. Sie muss hier irgendwo sein. Haltet nach Ruinen Ausschau.« Lucien schulterte seinen Rucksack und ging los, gefolgt von Vivana, ihrem Vater und Ruac. Da sie dem Verlauf der Schlucht folgen mussten, konnten sie nur nach links oder rechts gehen. Lucien hatte sich für rechts entschieden, was genauso gut wie die andere Richtung war, denn seine Karte war viel zu ungenau, um den Abstieg zum Fluss exakt zu lokalisieren.
Es dauerte nicht lange, bis sie auf Ruinen stießen, allerdings nicht am Rand der Schlucht, sondern darin . Wie Klippen und Riffe wuchsen sie aus dem Dunst, scharfkantige Turmspitzen, Mauern, Überreste von steinernen Bögen und Pfeilern. Auf den ersten Blick erschien es Vivana, als handele es sich um viele verschiedene Gebäude, doch als sie genauer hinschaute, wurde ihr klar, dass sie sich irrte. In der Schlucht stand ein einziges Bauwerk, viel gewaltiger als alles, was sie je gesehen hatte. Allein in den Teil, den sie erkennen konnte, hätte die Kathedrale von Bradost mehrmals hineingepasst.
Kein Bauwerk – eine Stadt , dachte Vivana. Eine Stadt des Verlorenen Volkes. Sie glaubte sich zu erinnern, ähnliche Gebilde in ihrer Vision gesehen zu haben.
Kurz darauf entdeckten sie die Treppe.
Sie war in die Wand der Schlucht geschlagen worden und so breit wie eine der Hauptstraßen Bradosts. Nach drei- oder vierhundert Schritt knickte sie rechtwinklig ab und führte von der Felswand weg, auf die Ruinen zu, getragen von künstlich geschaffenen Pfeilern und natürlichen Steinsäulen. Obwohl die Stufen im Dunst verschwanden, war Vivana sicher, dass man viele Stunden hinabsteigen musste, um den Grund der Schlucht zu erreichen.
Sie unterdrückte ein Schaudern.
Wenigstens waren weit und breit weder Dämonen noch verdammte Seelen zu sehen.
Sie begannen mit dem Abstieg. Die Treppe bestand aus demselben schwarz schimmernden Material wie die anderen Ruinen, die sie gesehen hatten, und war trotz ihres unvorstellbaren Alters in erstaunlich gutem Zustand. Manche Stufen waren gesprungen oder abgesplittert und aus der Brüstung hier und da Steine gebrochen, doch davon
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