Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
liest. Das Netzwerk tötet jeden, der es verrät. So steht es im Kleingedruckten. Aber wer liest das schon …
Du wirst dich fragen, warum ich Dir das alles erzähle. Ich kann mit der Schuld, den Tod Deines Vaters und den von Manuela auf dem Gewissen zu haben, nicht mehr länger leben. Lieber sterbe ich. Vielleicht ist mein Tod nicht nutzlos, wenn die Welt die Wahrheit über dieses Netzwerk erfährt. Mir ist es gelungen, die IP-Adresse und somit den Standort der Netzwerk-Server zu ermitteln. Das Netz hat seine Wurzeln in Berlin. Du musst mir helfen, das öffentlich zu machen! Jemand muss das Netzwerk abschalten! Wenn nicht, wird es alle Menschen auf dem Erdball infizieren und die Welt mit sich in den Abgrund reißen.
Ich weiß, Du wirst mir das, was ich Dir und Deiner Familie angetan habe, nie verzeihen können, aber ich bitte Dich inständig: Lass die Wut in Dir nicht die Kontrolle übernehmen, und fang nicht an, zu hassen, Naomi. Tu das nicht! Denn dann gibt es kein Entkommen, und das Netzwerk findet auch Dich!
Darunter hatte Alejandro fast unleserlich, so als habe er dabei größte Mühe gehabt – ja, so als hätte ihn irgendwas daran hindern wollen –, noch die vermeintliche Berliner Adresse des Netzwerks hingekritzelt.
Naomi hatte das Gefühl, dass ihr Herz plötzlich doppelt so schnell schlug wie zuvor. Sie las den Brief noch einmal und dann sogar ein drittes Mal. Weil sie einfach nicht glauben konnte, was dort stand, war sie so in die Lektüre versunken, dass sie gar nicht mitbekam, wie König weitere Versuche unternahm, seine Kollegen in der Zeltstadt zu erreichen. Sie nahm auch nur unbewusst das Unwetter wahr, das sich jetzt direkt über ihnen zusammenbraute: die grellen Blitze, das laute Donnern und das Prasseln des Regens, das wie der Wind an Stärke zugenommen hatte. Sie schaute nicht einmal auf, als Jimmy begann, vergeblich an der verschlossenen Eingangstür der Klinik zu rütteln. Er wollte lieber hinein, da draußen jetzt ein richtiges Unwetter tobte.
Denn dann gibt es kein Entkommen, und das Netzwerk findet auch Dich! – dieser Satz tönte laut in Naomis Kopf. Was war das für ein Netzwerk, von dem eine so große Gefahr ausgehen sollte? Konnte sie diesen Alejandro und das, was er über das Netzwerk schrieb, überhaupt ernst nehmen? Oder war das nicht alles bloß der kranken Fantasie eines Verrückten entsprungen?
Erst als jemand auf ihre Schulter tippte, riss ihr Gedankenstrom ab. Sie zuckte kurz zusammen, dann drehte sie sich um. Vor ihr stand ihre Mutter, die sie mit sorgenvollem Blick anschaute. Sie bemerkte, dass Naomi kreidebleich war.
»Geht es dir nicht gut?«, rief sie gegen das Tosen des Windes an.
Naomi schaute sie entgeistert an. Sie fühlte sich ein wenig so, als sei sie gerade aus einer Narkose erwacht, und brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln, bevor sie stammelnd antwortete: »Nein … nein, alles … in Ordnung.«
Aber in Wirklichkeit war nichts in Ordnung. Der Inhalt des Briefs hatte ihre Welt auf den Kopf gestellt. Noch wusste sie nicht, was sie mit den Informationen anfangen sollte und ob sie ihnen Glauben schenken konnte, so abwegig klang das Ganze. Sie musste erst noch ihre Gedanken sortieren.
»War der Brief von deinem Vater?«, fragte ihre Mutter und kam dabei dicht an das Visier ihres Schutzhelms heran.
»Nein, er war nicht von Papa.«
»Von wem denn dann?« Simone machte ein erstauntes Gesicht.
»Von einem Freund von Papa.«
»Was steht da drin?«
»Seltsame Dinge, Mama, ganz seltsame Dinge«, wich Naomi der Frage ihrer Mutter aus.
Simone schaute sie mit großen Augen an. »Was für seltsame Dinge? Hat es mit dem Tod deines Vaters zu tun?«
Wäre es sinnvoll, ihrer Mutter zu erzählen, was in dem Brief stand? Wäre es sinnvoll, überhaupt irgendjemandem davon zu erzählen?, fragte sie sich. Ihren Vater würde es nicht mehr zurückholen. Und ihre Mutter? Würde es sie retten?
Der letzte Gedanke löste bei Naomi eine Kette weiterer Gedanken aus, die sich bis zum Anfang der Virus-Katastrophe zurücksponnen. Sie versuchte, die Ereignisse irgendwie einzuordnen, einen Sinn darin zu erkennen. Was würde Witter dazu sagen? Wahrscheinlich war er der Einzige, der das alles nicht als wirren Unsinn abtäte. Das seltsame Virus in Berlin. Die Todbringer, von denen er gesprochen hatte. War dieser Attentäter auch einer von ihnen? Waren sie alle Mitglieder des Netzwerkes?
»Naomi!«, rief ihre Mutter, die endlich eine Antwort hören wollte.
Naomi war kurz davor,
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