Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
SIE mich in dem kleinen, schäbigen Hotel weit weg von Bogotá nicht finden. Keine Nacht kann ich mehr richtig schlafen, denn jedes Mal wenn ich von draußen durch das offene Fenster ein Geräusch höre, schrecke ich hoch, weil ich glaube, dass SIE da sind. Sogar während ich diese Worte zu Papier bringe, drehe ich mich des Öfteren um, weil ich das Gefühl habe, SIE lauern in der Dunkelheit und beobachten mich.
Wir haben uns leider nie persönlich kennengelernt, aber zumindest kann ich behaupten, dass ich Dich ein wenig aus den Erzählungen Deines Vaters kenne. Er hat immer nur in den höchsten Tönen von Dir gesprochen. Hat mir wieder und wieder erzählt, was für ein besonderes Mädchen Du bist – stark, intelligent, einfühlsam – und wie sehr er Dich vermisst. Wahrscheinlich denkt jeder Vater nur das Beste von seinem Kind. Auch ich habe eine Tochter. Aus erster Ehe. Und ich liebe sie über alles, genauso wie Dein Vater dich über alles geliebt hat.
Naomi ließ den Brief in ihrer Hand für einen Moment sinken. Ihr wurde auf einmal schwer ums Herz, und sie musste sich zusammenreißen, damit sie nicht losheulte. Dann las sie weiter.
Anfangs hatten Olaf und ich nur beruflich miteinander zu tun. Ich habe für eine IT-Firma gearbeitet, für die Dein Vater eine Delegationsreise nach Singapur organisiert und die er bei der Suche nach neuen Märkten unterstützt hatte. Später hat sich dann zwischen uns eine Freundschaft daraus entwickelt. Olaf war öfters zu Besuch bei mir und meiner Frau Manuela. An den Wochenenden, an Feiertagen, zum Essen oder einfach nur zum geselligen Beisammensein. Manuela war Mitarbeiterin bei der Deutsch-Kolumbianischen Industrie- und Handelskammer, lange Zeit bevor Dein Vater dort angefangen hatte, und so kam auch der Kontakt überhaupt erst zustande.
Meine Welt brach zusammen, als ich eines Tages herausfand, dass Manuela und Dein Vater mehr als nur miteinander befreundet waren und sich außerhalb der Arbeit heimlich trafen. Ich begann, ihnen hinterherzuspionieren. Es kostete mich anfangs enorme Kraft, Manuela nicht auf die Affäre mit Deinem Vater anzusprechen und so zu tun, als wüsste ich davon nichts. Schließlich konnte ich mich nicht mehr zusammenreißen und konfrontierte sie mit meinem Wissen. Es gab schreckliche Szenen, Vorwürfe und Tränen. Ich kämpfte wie ein Löwe um uns und unsere Ehe, und ich war voller Hoffnung, dass sie es sich noch einmal anders überlegte. Doch sie war so sehr in deinen Vater verliebt, dass sie schließlich die Scheidung einreichte. Nach dem Kampf kam die Erschöpfung, doch dann vollzog sich in mir eine Wandlung. Ein Gefühl, das ich in dieser Stärke nie gekannt hatte. Wut. Furchtbare Wut, die sich schließlich in Hass verwandelte. Hass auf Manuela und auf Deinen Vater. Ich malte mir aus, wie ich mich an ihnen rächen und ihr Glück zerstören könnte.
In dieser Zeit meldete sich bei mir ein Freund per E-Mail über das Netzwerk I Share Evil .
Die erste Seite war zu Ende. Naomi war völlig verwirrt. Was für ein Wahnsinniger musste dieser Alejandro sein, ihr das zu schreiben! Was bezweckte er damit?
Sie drehte sich kurz um, weil sie König etwas in sein Funkgerät brüllen hörte. Doch aufgrund des Windes und des lauten Regens verstand sie nicht, was er sagte. Die anderen waren unter dem Vordach weiter zusammengerückt, um sich vor dem aufkommenden Sturm zu schützen. Sie blickte nachdenklich zu ihrer Mutter, deren Haar im Wind wild umherflatterte und die zu ihr herüberschaute. Dann drehte sich Naomi wieder um und begann, die zweite Seite zu lesen.
Ich weiß nicht, wer oder was dahintersteckt, wer das Netzwerk im Internet betreibt und was es will. Es ist ein Forum böser Gedanken. Und viele Menschen auf der ganzen Welt nehmen daran teil. Nachdem ich dort eine Gruppe ins Leben gerufen und meine ganze Wut und meinen ganzen Hass kundgetan hatte, schien es, als pflanzte das Netzwerk einen Keim des Bösen in die Köpfe der User , als infizierten sie sich mit den bösen Gedanken. Wenige Wochen danach bestiegen Manuela und Dein Vater ein Flugzeug nach San Andrés und wurden Opfer eines Anschlags. Die Details kennst Du. Der Mann, der sich und die anderen in die Luft sprengte, war ein Besucher meiner I Share Evil -Gruppe. Ich war über das Netzwerk mit ihm in Kontakt.
Seit Kurzem höre ich Stimmen in meinem Kopf. Stimmen, die mir Dinge befehlen. Schlimme Dinge. Ich will, dass das aufhört …
Wahrscheinlich lebe ich schon nicht mehr, wenn Du diese Seiten
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