Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
U-Bahn wehte, war nichts zu sehen; es gab nur grauen Asphalt und Beton. Und die anderen drei konnten ihre Frage nicht beantworten.
Witter ließ ebenfalls seinen Blick schweifen. Er blieb an dem türkischen Geschäft an der Ecke hängen, in dem er immer seine Lebensmittel eingekauft hatte. Jetzt war es geschlossen; und der Rollladen des Schaufensters war heruntergelassen.
»Das ist wohl das Ende«, sagte Witter leise.
»So ein Fuck!«, schimpfte Jimmy vor sich hin, während er in seinen Taschen kramte. »Ich hab die Wagenschlüssel in der Wohnung liegen lassen. Jetzt müssen wir zu Fuß weiter …«
»Tja, es sieht ja nicht so aus, als würde gleich ein Taxi hier vorbeikommen«, bemerkte Paul. Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Ich muss Mama finden«, sagte Naomi, die ihr Smartphone aus der Tasche holte und versuchte, ihre Mutter anzurufen. Wie schon zuvor im Plattenbau, hatte sie damit keinen Erfolg.
»Wo willst du denn anfangen, sie zu suchen?«, fragte Jimmy. »Du hast doch gar keinen Anhaltspunkt, wohin sie sie gebracht haben.«
Naomi musste ihm da recht geben. »Und was machen wir jetzt?«
Jimmy zögerte einen kurzen Moment mit der Antwort. Er fragte sich, ob Barabbas – immer vorausgesetzt, der Scheißkerl lebte noch – sich in dem Gebäude befand oder ob er wie sie einen Weg nach draußen gefunden hatte. Auf jeden Fall wollte er seinen Koffer irgendwie wieder zurückbekommen. »Erst mal weit, weit weg aus dieser Hölle«, erwiderte er schließlich.
Naomi dachte darüber nach, ob mittlerweile alle Menschen in der Plattenbausiedlung tot waren, und drehte sich dabei intuitiv zu dem Gebäude um. Sie erstarrte, als sie eine Gestalt vor dem Zaun stehen sah, die zu ihr herüberblickte. Einige Sekunden verstrichen, dann rief die Person so laut Naomis Namen, dass auch die drei anderen herumfuhren. Jimmy zog sofort seine Waffe.
»Nein, Jimmy, nicht!«, rief Naomi. Sie wusste, wer das war. »Das ist Rafael!« Im nächsten Augenblick rannte sie los.
Als Rafael ihr entgegenlief, bemerkte sie, dass er humpelte. Sie bremste unwillkürlich ab, als sie sah, weshalb er das rechte Bein nachzog: In seinem Oberschenkel steckte ein langer Pfeil.
45
Gestern Nacht hatte sie auf einmal begonnen zu schwitzen, danach hatte Schüttelfrost eingesetzt. Das Fieberthermometer hatte 38 Grad angezeigt. Am Morgen war die Temperatur um einen weiteren Grad angestiegen. Peter Schanz hatte seiner Frau daraufhin fiebersenkende Mittel gegeben und zum Himmel gebetet, dass es nur die Symptome einer gewöhnlichen Herbstgrippe waren und nicht die des tödlichen Fiebers, das sich in kürzester Zeit wie eine Epidemie im Herzen Berlins ausgebreitet hatte.
Mittlerweile ging man von einer Zahl von über zehntausend Infizierten allein in Berlin-Mitte aus. Es gab eine Meldepflicht nach dem Infektionsschutzgesetz. Alle Personen, die Symptome der Krankheit zeigten, waren unverzüglich den Behörden zu melden. Auch in der City West, in der Schanz mit seiner Familie wohnte, und in anderen Stadtteilen Berlins, wo im Moment nur vereinzelt Krankheitsfälle bekannt wurden, war es aufgrund von Panik und Hysterie in der Bevölkerung vermehrt zu Zwischenfällen und Anzeigen zwischen Nachbarn und sich nahestehenden Personen gekommen.
Schanz wollte vermeiden, dass man seine Frau abholte und in die neu errichtete Sperrzone »Berlin-Mitte« abschob. Für die Gesundheitsbehörden bestand die höchste Priorität darin, die weitere Ausbreitung des Virus innerhalb der Hauptstadt und über ihre Grenzen hinaus zu verhindern. Deshalb war »Berlin-Mitte« zu einer Seuchenzone erklärt und mit einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun abgeriegelt worden. Und die Bundesregierung war längst nach Bonn in die alten Regierungsgebäude geflohen.
Noch gab es in anderen Teilen Deutschlands keine vergleichbaren Krankheitsfälle. Aber es gab Befürchtungen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich weitere Menschen infizieren und die ersten Fälle in anderen Städten gemeldet würden. Das beste Mittel, um die Ausbreitung einzudämmen, war die Vermeidung von Kontakten. Schulen und Kindergärten blieben geschlossen. Größere Veranstaltungen, bei denen sich viele Menschen versammelten, waren verboten und die Bürger Berlins dazu angehalten worden, soweit es ging, zu Hause zu bleiben. Neben den anfänglich panischen Hamsterkäufen war es in ganz Berlin in der Folge auch zu Plünderungen von Geschäften gekommen, und in den sozialen Brennpunkten der Stadt
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