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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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glücklichen Gesichtsausdruck an, dass ich beinahe die Kerze, die ich in der Hand habe, fallen lasse. Die Flamme verlischt trotzdem. Jetzt ist es dunkel.
    »Findest du den Weg?«, fragt er.
    »Ja.« Ich taste mich auf seine Stimme zu und halte mich an den anderen Betten fest.
    »Langsam.« Seine Hand streicht kurz über meinen Rücken, als ich an ihm vorbei zu meinem Bett gehe. Ich krieche unter die Wolldecke. Es riecht modrig und ganz leicht nach Mäusedreck, aber ich bin dankbar für die Wärme. Die Hitze des Feuers im Badezimmer reicht nicht bis hierher. Beim Ausatmen bilden sich kleine Atemwolken in der Dunkelheit. Es wird nicht leicht sein, einzuschlafen. Die Erschöpfung, die mich nach dem Abendessen überfallen hat, ist so schnell verflogen, wie sie gekommen ist. Mein Körper ist höchst wachsam. Ich bin mir der Anwesenheit Julians bewusst, spüre seinen Atem, seinen langen Körper, der in der pechschwarzen Dunkelheit fast genau neben meinem liegt. Ich weiß, dass er ebenfalls wach ist.
    Nach einer Weile sagt er etwas. Seine Stimme ist leise und ein wenig heiser. »Lena?«
    »Ja?« Das Herz klopft mir schnell bis in den Hals. Ich höre, wie er sich zu mir umdreht. Wir sind weniger als dreißig Zentimeter entfernt, so nah stehen die Betten nebeneinander.
    »Denkst du manchmal an ihn? An den Jungen, der dich infiziert hat?«
    Bilder blitzen in der Dunkelheit auf: ein Kranz aus rotbraunem Haar wie brennendes Herbstlaub; ein verschwommener Körper, ein Umriss, der neben mir herrennt; eine Traumgestalt. »Ich versuche es zu vermeiden«, sage ich.
    »Warum?« Julians Stimme ist leise.
    »Weil es wehtut«, sage ich.
    Julians Atem ist gleichmäßig, beruhigend.
    »Denkst du manchmal an deinen Bruder?«, frage ich.
    Ein kurzes Zögern. »Andauernd«, sagt Julian. Erneutes Schweigen. Dann spricht Julian weiter. »Kann ich dir ein Geheimnis verraten?«
    »Ja.« Ich ziehe mir das Laken enger um die Schultern. Meine Haare sind immer noch nass.
    »Ich weiß, dass er nicht funktionieren würde. Der Eingriff, meine ich. Ich weiß, dass ich dabei sterben würde. Genau … genau das wollte ich.« Die Worte kommen leise drängend heraus. »Das habe ich noch keinem gesagt.«
    Plötzlich ist mir zum Weinen zu Mute. Ich würde am liebsten den Arm ausstrecken und seine Hand nehmen. Ich würde ihm gerne sagen, dass alles in Ordnung ist, und sein Ohr an meinen Lippen spüren. Ich würde mich gerne neben ihm zusammenrollen, wie ich es bei Alex getan hätte, und gegen seine warme Haut atmen.
    Er ist nicht Alex. Du willst nicht Julian. Du willst Alex. Und Alex ist tot.
    Aber das stimmt nicht ganz. Ich will auch Julian. Mein Körper schmerzt überall. Ich will Julians volle, weiche Lippen auf meinen spüren und seine warmen Hände auf meinem Rücken und in meinen Haaren. Ich will mich in ihm verlieren, mich in seinem Körper auflösen.
    Ich presse die Augen zusammen, um den Gedanken zu vertreiben. Aber mit geschlossenen Augen verschmelzen Julian und Alex miteinander. Ihre Gesichter überlappen und trennen sich, dann überschneiden sie sich wieder wie Spiegelbilder in einem Fluss, legen sich immer wieder übereinander, bis ich mir nicht mehr sicher bin, nach welchem ich greife – in der Dunkelheit, in meinem Kopf.
    »Lena?«, sagt Julian erneut, diesmal noch leiser. Wenn er meinen Namen ausspricht, klingt es wie Musik. Er ist näher gerückt. Ich kann ihn spüren, die sanften Linien seines Körpers, der die Dunkelheit verdrängt. Unwillkürlich habe ich mich auch bewegt. Ich liege ganz am Rand meines Bettes, so nah wie möglich neben ihm. Aber ich drehe mich nicht zu ihm um. Ich zwinge mich dazu, ruhig dazuliegen. Ich lasse meine Arme und Beine erstarren und versuche auch mein Herz zum Erstarren zu bringen.
    »Ja, Julian?«
    »Wie fühlt es sich an?«
    Ich weiß, wovon er spricht, trotzdem frage ich: »Wie fühlt sich was an?«
    »Die Deliria.« Er hält inne. Dann höre ich, wie er langsam aus dem Bett gleitet. Er kniet im Zwischenraum zwischen unseren Betten. Ich kann mich nicht rühren. Wenn ich den Kopf drehe, sind unsere Lippen nur fünfzehn Zentimeter voneinander entfernt. Sogar noch weniger. »Wie fühlt es sich an, infiziert zu sein?«
    »Das … das lässt sich nicht beschreiben.« Ich zwinge die Worte heraus. Keine Luft, keine Luft, keine Luft. Seine Haut riecht nach Holzfeuer, nach Seife, nach Paradies. Ich stelle mir vor, seine Haut zu schmecken; ich stelle mir vor, an seinen Lippen zu knabbern.
    »Ich will es wissen.«

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