Pandemonium
Seine Worte sind ein Flüstern, kaum wahrnehmbar. »Ich möchte es mit dir erfahren.«
Dann streichen seine Finger ganz sanft über meine Stirn – diese Berührung ist ebenfalls ein Flüstern, ein leiser Hauch, und ich bin immer noch gelähmt, erstarrt. Er streichelt über meinen Nasenrücken und meine Lippen – dort ein ganz leichter Druck, so dass ich seine salzige Haut schmecke, seinen Daumen auf meiner Unterlippe spüre – und dann über mein Kinn und meinen Kiefer hinauf zu meinen Haaren, und ich bin erfüllt von einem prasselnden heißen Weiß, das mich festhält.
»Ich habe dir gesagt …«, Julian schluckt. Seine Stimme ist jetzt voll und heiser. »Ich habe dir gesagt, dass ich mal gesehen habe, wie sich zwei Leute geküsst haben. Würdest du …?«
Julian beendet seine Frage nicht. Das ist nicht nötig. Ganz plötzlich entspannt sich mein Körper; das Weiß und die Hitze brechen in meiner Brust auf, meine Lippen lösen sich und ich brauche nichts weiter zu tun, als den Kopf zu wenden, nur ein winziges Stück, und da sind seine Lippen.
Dann küssen wir uns: erst langsam, weil er nicht weiß, wie es geht, und es für mich schon so lang her ist – so lang, dass es sich anfühlt wie eine Ewigkeit. Ich schmecke Salz, Zucker und Seife; ich fahre mit der Zunge über seine Unterlippe und er erstarrt einen Moment. Seine Lippen sind warm, voll und wunderbar. Seine Zunge streicht über meine Lippen und dann lassen wir uns plötzlich beide gehen; wir atmen ineinander und er hält mein Gesicht in seinen Händen und ich reite auf einer Welle aus reiner Freude – ich bin so glücklich, dass ich weinen könnte. Er presst seine Brust an mich. Ich habe ihn zu mir aufs Bett gezogen und will nicht, dass es je aufhört. Ich könnte ihn für immer küssen und seine Finger in meinem Haar spüren und ihn meinen Namen sagen hören.
Zum ersten Mal seit Alex’ Tod habe ich einen Weg zu einem wahrhaft freien Ort gefunden: einem Ort, der nicht von Mauern umgeben und von Angst bewohnt ist. Es ist wie Fliegen.
Und dann hält Julian plötzlich inne und löst sich von mir. »Lena«, stößt er keuchend hervor, als hätte er gerade einen Langstreckenlauf absolviert.
»Sag es nicht.« Mir ist immer noch nach Weinen zu Mute. Küssen hat etwas so Zerbrechliches an sich, es ist wie aus Glas. »Mach es nicht kaputt.«
Aber er sagt es trotzdem. »Was wird morgen sein?«
»Ich weiß es nicht.« Ich ziehe seinen Kopf neben meinen auf das Kissen. Einen Augenblick glaube ich etwas neben uns in der Dunkelheit zu spüren, eine Gestalt, eine Bewegung, und ich drehe den Kopf nach links. Nichts. Ich sehe Gespenster. Ich muss an Alex denken. »Mach dir deswegen jetzt keine Sorgen«, sage ich, sowohl zu mir selbst als auch zu Julian.
Das Bett ist sehr schmal. Ich drehe mich auf die andere Seite, von Julian weg, aber als er den Arm um mich legt, schmiege ich mich rückwärts an ihn, in die lange Biegung seines Körpers, als wäre ich dafür gemacht. Ich möchte weglaufen und weinen. Ich möchte Alex – wo auch immer er ist, welche andere Welt ihn jetzt umgibt – um Vergebung bitten. Ich möchte Julian wieder küssen.
Aber ich tue nichts von alledem. Ich liege ruhig da und spüre Julians gleichmäßigen Herzschlag an meinem Rücken, bis sich mein Herz ihm beruhigend angleicht, und ich lasse mich von ihm halten und kurz vorm Einschlafen spreche ich ein Gebet, dass der Morgen niemals anbrechen möge.
Aber der Morgen bricht an. Er bahnt sich einen Weg durch die Spalten im Sperrholz, die Ritzen im Dach: ein trübes Grau, das die Dunkelheit leicht erhellt. Meine ersten wachen Momente sind: Ich glaube, dass Alex hier ist. Nein. Julian. Er hat den Arm um mich gelegt, sein Atem ist heiß in meinem Nacken. Ich habe in der Nacht die Laken ans Fußende des Bettes gestrampelt. Im Flur sehe ich eine kurze Bewegung aufblitzen; irgendwie muss die Katze ins Haus gekommen sein.
Dann plötzlich die durchdringende Gewissheit – nein, ich habe gestern Abend die Tür zugemacht, ich habe sie doch abgeschlossen – und Entsetzen presst mir die Brust zusammen.
Ich setze mich auf, sage: »Julian …«
Und dann explodiert alles: Sie stürzen zur Tür herein, platzen durch die Wände, brüllen, schreien – Polizisten und Aufseher mit Gasmasken und grauen Uniformen. Einer von ihnen packt mich und ein anderer reißt Julian aus dem Bett, der nach mir ruft, aber ich kann ihn bei all dem Lärm nicht hören. Ich schreie und greife nach dem Rucksack, der
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