Pandemonium
mich.
»Julian! Julian!«
Keine Antwort. Die Panik ist zu einem dicken Kloß geworden, der mir die Kehle verstopft. Nein, nein, nein, nein. Nicht schon wieder.
»Los, los, geh weiter.« Die verzerrte Gasmaskenstimme der Frau drängt mich voran. Sie stößt mich an der Reihe parkender Autos vorbei. Der Aufseher, der den Zug angeführt hat, spricht schnell in sein Walkie-Talkie, irgendeine Diskussion mit dem Oberkommando darüber, wer mich mitnehmen soll, und er würdigt uns kaum eines Blickes, als wir uns durch die Menge schlängeln. Ich wehre mich immer noch mit dem letzten Rest an Kraft, den ich habe, gegen die Frau, obwohl mir ihr Klammergriff heftige Schmerzen von den Handgelenken bis zu den Schultern verursacht. Und selbst wenn ich mich losreißen könnte, wären da immer noch die Handschellen und ich käme nicht weiter als ein paar Meter, bevor sie mich wieder eingefangen hätten.
Aber da ist der Felsbrocken in meinem Hals und die Panik und die Gewissheit. Ich muss Julian finden. Ich muss ihn retten.
Darunter strömen weiterhin ältere Worte, dringlichere Worte durch mich hindurch: nicht schon wieder, nicht schon wieder, nicht schon wieder.
»Julian!« Ich trete nach hinten aus und treffe das Schienbein der Frau. Sie flucht und einen winzigen Augenblick lang löst sich ihr Griff. Aber dann umklammert sie mich wieder und zerrt so fest an meinen Handgelenken, dass ich mich keuchend zurückbeugen muss.
Und dann, als ich nach hinten geneigt dastehe, um meine Arme zu entlasten, nach Luft schnappe und versuche, mir das Weinen zu verkneifen, beugt sie sich ein bisschen vor, so dass das Mundstück ihrer Maske gegen mein Ohr stößt.
»Lena«, sagt sie leise. »Bitte. Ich werde dir nicht wehtun. Ich bin eine Freiheitskämpferin.«
Ich kann kaum glauben, dass ich richtig gehört habe. Plötzlich habe ich wieder Hoffnung. Ich höre auf, mich zu wehren, und ihr Griff lockert sich. Aber sie schiebt mich weiterhin vorwärts. Sie geht schnell und so zielstrebig, dass niemand sie aufhält oder sich einmischt.
Weiter vorne sehe ich einen weißen Lieferwagen, der am Straßengraben geparkt ist. Er ist ebenfalls mit dem Särge-Logo gekennzeichnet, aber die Aufschrift scheint eine Spur verschoben zu sein – sie ist ein winziges bisschen zu klein, wird mir bewusst, obwohl man genau hinsehen muss, um es zu bemerken. Wir sind um eine Straßenbiegung gegangen und ein riesiger Stapel aus verbogenem Metall und Betontrümmern schirmt uns nun vom Rest des Einsatzkommandos ab.
Plötzlich lässt die Frau meinen Arm los. Sie läuft auf den Lieferwagen zu und holt einen Schlüsselbund aus einer ihrer Taschen, dann schließt sie die Tür zur Ladefläche auf. Das Innere des Lieferwagens ist dunkel und leer und es riecht leicht säuerlich.
»Rein mit dir«, sagt sie.
»Wo bringst du mich hin?« Ich habe diese Hilflosigkeit satt; seit Tagen bin ich immer nur ein Spielball, überall geheime Bündnisse und komplexe Verwicklungen.
»An einen sicheren Ort«, sagt sie und trotz ihrer Maske kann ich die Dringlichkeit in ihrer Stimme hören. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu glauben. Sie hilft mir in den Lieferwagen und sagt, ich solle mich umdrehen, damit sie mir die Handschellen abnehmen kann. Dann wirft sie meinen Rucksack herein und schlägt die Türen zu. Mein Herz macht einen kleinen Satz, als ich höre, wie sie außen ein Schloss befestigt. Jetzt sitze ich hier fest. Aber es kann nicht schlimmer sein als das, was mich draußen erwartet hätte, und mir sinkt das Herz, als ich an Julian denke. Was wohl mit ihm passieren wird? Vielleicht – kurz flackert die Hoffnung auf – nehmen sie ihn nicht so hart ran wegen seines Vaters. Vielleicht kommen sie zu dem Schluss, dass alles nur ein Fehler war.
Und es war ja auch ein Fehler: die Küsse; wie wir uns berührt haben.
Oder nicht?
Der Lieferwagen macht einen Satz nach vorn und ich lande auf einem Ellbogen. Der Boden des Wagens klappert und wackelt, als wir über die löchrige Straße rumpeln. Ich versuche die Strecke, die wir zurücklegen, in Gedanken zu verfolgen. Jetzt müssen wir in der Nähe der Müllkippe sein, am alten Bahnhof vorbei, jetzt fahren wir auf den Tunnel zu, der nach New York reinführt. Geschätzte zehn Minuten später halten wir an. Ich krabbele auf der Ladefläche nach vorn und presse das Ohr an die schwarz gestrichene und vollkommen undurchsichtige Glasscheibe, die mich vom Führerhaus trennt. Die Stimme der Frau dringt zu mir nach hinten. Ich kann
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