Pandemonium
wissen, wie du mich gefunden hast und wer dich geschickt hat.«
»Das darf ich dir nicht sagen«, entgegnet sie und versucht mich abzuschütteln.
»Nimm die Maske ab«, sage ich. Einen Moment meine ich Angst in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Dann ist es vorbei.
»Lass mich los.« Ihre Stimme ist ruhig, aber fest.
»Gut«, sage ich. »Dann nehme ich sie dir ab.«
Ich strecke die Hand nach ihrer Maske aus. Sie will mich abwehren, ist aber nicht schnell genug. Es gelingt mir, eine Ecke des Stoffs an ihrem Hals hochzuheben, wo eine kleine eintätowierte Nummer senkrecht vom Ohr zur Schulter verläuft: 5996. Aber bevor ich die Maske höher ziehen kann, bekommt sie mein Handgelenk zu fassen und stößt mich weg.
»Bitte, Lena«, sagt sie, und ich höre erneut die Dringlichkeit in ihrer Stimme.
»Hör auf, meinen Namen zu nennen.« Du hast nicht das Recht, meinen Namen zu nennen. Wut steigt in mir auf und ich schlage mit dem Rucksack nach ihr, aber sie duckt sich. Bevor ich wieder ausholen kann, geht die Tür hinter mir auf und ich fahre herum, als Raven in den Raum kommt.
»Raven!«, rufe ich und renne auf sie zu. Impulsiv schlinge ich die Arme um sie. Wir haben uns noch nie umarmt, aber sie lässt zu, dass ich sie ein paar Sekunden fest drücke, bevor sie sich losmacht. Sie grinst.
»Hey, Kleine.« Sie fährt sanft mit dem Finger über den Schnitt an meinem Hals und sucht mein Gesicht nach weiteren Verletzungen ab. »Du siehst scheiße aus.«
Hinter ihr lehnt Tack im Türrahmen. Er lächelt auch und ich kann mich kaum zurückhalten, am liebsten würde ich auch ihn umarmen. Aber ich beschränke mich darauf, den Arm auszustrecken und die Hand zu drücken, die er mir entgegenhält.
»Willkommen zurück, Lena«, sagt er mit warmem Blick.
»Ich verstehe das nicht.« Ich bin unglaublich glücklich; die Erleichterung schlägt Wellen in meiner Brust. »Wie habt ihr mich gefunden? Woher wusstet ihr, wo ich bin? Sie wollte mir nichts sagen, ich …« Ich drehe mich um und will auf die maskierte Frau zeigen, aber sie ist nicht mehr da. Sie muss durch die Doppeltür verschwunden sein.
»Ganz ruhig.« Raven lacht und legt mir einen Arm um die Schultern. »Jetzt besorgen wir dir erst mal was zu essen, okay? Und du bist bestimmt müde. Bist du müde?« Sie führt mich an Tack vorbei durch die offene Tür. Wir sind offenbar in einer Art umgewandelter Lagerhalle. Durch die dünnen Trennwände höre ich Leute reden und lachen.
»Ich bin entführt worden«, sage ich und jetzt sprudeln die Worte nur so aus mir heraus. Ich muss es Tack und Raven erzählen; sie werden alles verstehen, sie werden es mir erklären können. »Nach der Demo bin ich Julian in die alten Tunnel gefolgt. Und da waren Schmarotzer und sie haben mich angegriffen – allerdings glaube ich, dass die Schmarotzer mit der VDFA zusammenarbeiten und …«
Raven und Tack werfen sich einen Blick zu. Tack sagt besänftigend: »Hör zu, Lena. Wir wissen, dass du eine Menge durchgemacht hast. Komm erst mal runter, okay? Du bist jetzt in Sicherheit. Iss und ruh dich aus.« Sie haben mich in ein Zimmer geführt, das von einem großen Klapptisch aus Metall beherrscht wird. Darauf stehen Lebensmittel, die ich schon ewig nicht mehr gegessen habe: frisches Obst und Gemüse, Brot, Käse. Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Es riecht herrlich nach starkem Kaffee.
Aber ich kann mich noch nicht einfach setzen und essen. Erst will ich Bescheid wissen. Und ich muss es ihnen erzählen – das von den Schmarotzern und den Menschen, die unter der Erde leben, und von Julian.
Sie können mir helfen, Julian zu retten: Der Gedanke kommt mir ganz plötzlich, wie eine Erlösung. »Aber …«, will ich protestieren. Raven unterbricht mich und legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Tack hat Recht, Lena. Du muss wieder zu Kräften kommen. Und unterwegs werden wir genug Zeit zum Reden haben.«
»Unterwegs?«, wiederhole ich und sehe von Raven zu Tack. Sie lächeln mich beide immer noch an, was mir ein nervöses Kribbeln in der Brust verursacht. Ihr Lächeln ist irgendwie nachsichtig, so wie Ärzte Kinder anlächeln, wenn sie ihnen Spritzen geben. Jetzt pikst es einmal ganz kurz …
»Wir machen uns auf den Weg nach Norden«, sagt Raven übertrieben heiter. »Zurück zum Stützpunkt. Na ja, nicht zum ursprünglichen Stützpunkt – wir werden den Sommer außerhalb von Waterbury verbringen. Hunter hat sich darum gekümmert. Er hat von einer großen Siedlung nordöstlich
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