Pandemonium
Goldprägung, der auf einem Tisch neben einem Dutzend identischer Bücher gelegen hat. Ich halte es zunächst für eine Art Lexikon, bis ich die Worte lese, die auf einem der Buchrücken eingeprägt sind: OSTKÜSTE, NEW YORK – TERRORISTEN, ANARCHISTEN, DISSIDENTEN.
Ich fühle mich plötzlich, als hätte ich einen Schlag in den Magen bekommen. Ich bücke mich und sehe mir die Bände genauer an. Es sind Listen: eine Aufzählung der gefährlichsten inhaftierten Kriminellen in den Vereinigten Staaten, nach Region und Gefängnis sortiert.
Ich sollte gehen. Die Zeit wird knapp und ich muss Julian finden, selbst wenn es zu spät ist. Aber genauso stark ist da ein anderer Drang, der Drang, sie zu finden – ihren Namen zu sehen. Es ist der Drang zu sehen, ob sie auf der Liste steht, obwohl ich weiß, dass sie dort stehen muss. Meine Mutter saß zwölf Jahre in Block sechs der Grüfte, in Einzelhaft, an dem Ort, der den gefährlichsten Widerständlern und politischen Aufwieglern vorbehalten ist.
Ich weiß nicht, warum mir das so wichtig ist. Meine Mutter ist geflohen. Sie hat sich jahrelang, ein Jahrzehnt lang, durch die Wand gekratzt – sie hat sich wie ein Tier nach draußen gebohrt. Und jetzt ist sie irgendwo in Freiheit. Ich habe sie in meinen Träumen gesehen, wie sie durch einen Abschnitt der Wildnis rennt, der immer sonnig und grün ist, wo es Essen im Überfluss gibt.
Trotzdem muss ich ihren Namen sehen.
Ich brauche nicht lang, bis ich Ostküste, Maine-Connecticut gefunden habe. Die Liste der politischen Gefangenen, die während der letzten zwanzig Jahre in den Grüften inhaftiert waren, umfasst fünfzig Seiten. Die Namen sind nicht alphabetisch geordnet, sondern chronologisch. Sie sind handgeschrieben und von unterschiedlicher Lesbarkeit; dieses Buch ist offenbar schon durch viele Hände gegangen. Ich muss zum Lesen näher ans Fenster gehen, an den schmalen Spalt aus Licht. Meine Hände zittern und ich stütze das Buch auf der Ecke eines Tisches ab – der seinerseits ebenfalls fast vollständig von Büchern bedeckt ist, verbotenen Titeln aus der Zeit vor dem Heilmittel. Ich bin zu sehr auf die Namen konzentriert – jeder davon ein Mensch, jeder ein Leben, das von Steinmauern aufgesaugt wurde –, um mir die Mühe zu machen, näher hinzusehen. Es ist nur ein schwacher Trost, dass einige dieser Menschen nach dem Bombenanschlag auf die Grüfte entkommen sein müssen.
Das Jahr, in dem meine Mutter festgenommen wurde, finde ich leicht – als sie angeblich gestorben ist, wurde ich sechs. Das Jahr umfasst fünf oder sechs Seiten mit etwa zweihundert Namen.
Ich fahre mit dem Finger die Seiten entlang und mir ist schwindelig. Ich weiß, dass sie in dem Buch steht. Und ich weiß jetzt, dass sie in Sicherheit ist. Aber trotzdem muss ich es sehen; ein Stück von ihr existiert in den verblichenen Tintenspuren ihres Namens. Diese Federstriche haben ihr das Leben genommen – und mein Leben ebenfalls.
Dann sehe ich ihn. Mir stockt der Atem. Ihr Name ist ordentlich mit großer, eleganter, schräger Schrift geschrieben, als hätte derjenige, der zu jener Zeit im Besitz des Buches war, die geschwungenen Bögen all der l und a genossen: Annabel Gilles Haloway. Die Grüfte. Block 6. Einzelhaft. Agitationsniveau 8.
Neben diesen Worten steht die Aufnahmenummer der Gefangenen, sorgfältig notiert: 5996.
Mein Blickfeld verengt sich und in diesem Augenblick ist mir, als würde die Nummer von einem riesigen Scheinwerfer angestrahlt. Alles andere ist Schwärze, Nebel.
5996. Genau diese Nummer hatte die Frau, die mich aus der Zuflucht gerettet hat, am Hals eintätowiert.
Meine Mutter.
Jetzt kehren meine Eindrücke von ihr zurück, allerdings unzusammenhängend, wie Teile eines Puzzles, die nicht richtig zusammenpassen: ihre Stimme, leise, drängend und noch irgendwie anders. Flehend vielleicht? Traurig? Wie sie die Hand ausgestreckt hat, als wollte sie mein Gesicht berühren, bevor ich sie weggestoßen habe. Die Art, wie sie immer wieder meinen Namen genannt hat. Ihre Statur – ich hatte sie so groß in Erinnerung, aber sie ist klein, wie ich, wahrscheinlich nicht größer als eins sechzig. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war ich sechs. Natürlich kam sie mir damals groß vor.
Zwei Wörter lodern in mir, jedes eine heiße Hand, die mein Inneres umklammert: unmöglich und Mutter .
Schuldgefühle und Ungläubigkeit zerfetzen mich, bringen meinen Magen durcheinander. Ich habe sie nicht erkannt. Ich habe
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