Pandemonium
erkennen kann, aber alle Fenster sind dunkel, und falls Julian bewacht wird, müssen die Wachen im Haus sein. Ich freue mich über das Graffito, das jemand auf die Steinmauer gemalt hat: MÖRDER. Raven hatte Recht: Die Widerstandsbewegung wächst von Tag zu Tag.
Noch eine Runde um den Block und diesmal suche ich die ganze Straße ab, halte Ausschau nach Zeugen, neugierigen Nachbarn, möglichen Problemen, Fluchtwegen. Obwohl ich schon durchnässt bin, bin ich dankbar für den Regen. Er vereinfacht die Dinge. Wenigstens hält er die Leute von der Straße fern.
Ich trete ans Eisentor der Finemans und versuche die Nervosität zu ignorieren, die mich erfüllt. Da ist eine elektronische Tastatur, genau wie Julian gesagt hat: ein kleiner LCD-Bildschirm, auf dem man eine PIN eintippen soll. Einen Moment lang kann ich trotz des Regens und des heftigen Kribbelns meines Herzens nicht anders, als einfach dazustehen und über die Eleganz zu staunen: eine Welt aus schönen, surrenden Dingen, summender Elektrizität und Fernbedienungen, während der Großteil des Landes in Dunkelheit und Enge, Hitze und Kälte herumstolpert und Energiefetzen aufsaugt wie Hunde, die Knorpel von einem Knochen nagen.
Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass das vielleicht der eigentliche Zweck der Mauern und Grenzen, des Eingriffs und der Lügen ist, einer Faust, deren Griff immer fester und fester wird. Es ist eine schöne Welt für die, die die Faust spielen.
Ich lasse den Hass in mir anwachsen. Das wird helfen.
Julian hat gesagt, dass seine Familie Hinweise für den Code am oder um das Tor herum angebracht hat.
Es dauert nicht lange, bis ich die ersten drei Zahlen herausbekommen habe. Oben am Tor hat jemand eine kleine Metallplakette angebracht, auf der ein Zitat aus dem Buch Psst eingraviert ist: GLÜCKLICH SIND, DIE EINEN PLATZ HABEN; WEISE SIND, DIE DEM PFAD FOLGEN; SELIG SIND, DIE DEM WORT FOLGE LEISTEN.
Das ist ein bekannter Spruch – einer, der zufällig aus dem Teil über Magdalena stammt, einem Abschnitt des Buches, den ich gut kenne. Magdalena ist meine Namenspatronin. Ich habe diese Seiten früher immer durchstöbert und nach Spuren meiner Mutter gesucht, um ihren Gründen auf die Spur zu kommen und vielleicht einer Botschaft an mich.
Buch 9, Spruch 17. Ich tippe 917 in die Tastatur ein: Wenn ich Recht habe, fehlt mir nur noch eine Zahl. Ich will schon aufs Geratewohl irgendwelche Ziffern ausprobieren, als ein Flattern auf der anderen Seite meine Aufmerksamkeit erregt. Auf der Veranda hängen vier weiße Papierlampions mit dem VDFA-Logo. Sie wehen im Wind und einer hat sich fast ganz von der Schnur gelöst; er baumelt schräg wie ein halb abgetrennter Kopf und klopft einen Rhythmus gegen die Haustür. Abgesehen vom VDFA-Logo sehen die Lampions aus wie die Deko für einen Kindergeburtstag. Sie wirken eigenartig unpassend über der massiven Steinveranda, wie sie da hoch oben über dem kahlen Garten schwanken.
Das muss ein Zeichen sein.
9174. Das Tor klickt, als das Schloss aufgleitet, und ich bin drin.
Ich husche schnell in den Vorgarten und schließe das Tor hinter mir, wobei ich versuche, so viel in mich aufzunehmen wie möglich. Drei Stockwerke, dazu ein Keller; die Vorhänge zugezogen, alles dunkel. Mit der Haustür gebe ich mich gar nicht erst ab. Sie ist bestimmt abgeschlossen, und vielleicht gibt es ja Wachen. Stattdessen schleiche ich an die Seite des Hauses und stoße auf eine Betontreppe, die zu einer verzogenen Holztür führt: der Kellereingang. Ein kleines Fenster in der Backsteinwand ist mit schweren Läden aus Holz versperrt. Ich werde einfach reingehen müssen und beten, dass dieser Eingang unbewacht ist.
Die Kellertür ist ebenfalls verschlossen, aber der Türknopf ist alt und lose und müsste ziemlich leicht zu knacken sein. Ich gehe auf die Knie und hole das Messer heraus. Tack hat mir mal gezeigt, wie man mit der schmalen Spitze eines Rasiermessers Schlösser knackt. Er wusste nicht, dass Hana und ich diese Fähigkeit schon vor Jahren perfektioniert hatten, weil ihre Eltern alle Kekse und Süßigkeiten in die Speisekammer einschlossen. Ich schiebe die Messerspitze in den engen Spalt zwischen Tür und Rahmen. Ich muss nur kurz drehen und rütteln und schon gibt das Schloss nach. Dann stecke ich das Messer in die Tasche meiner Windjacke – ich brauche es jetzt in meiner Nähe –, hole einmal tief Luft und betrete das Haus.
Es ist stockdunkel. Das Erste, was mir auffällt, ist der Geruch:
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