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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Göttlichkeit nahe und durch Ordnung kommt man in den Himmel. Es ist eine gute Beschäftigung – Aufgaben, um die langen, leeren Stunden anzufüllen.
    »Du lebst bei deiner Schwester und ihrem Mann, stimmt das?«
    Ich nicke und wiederhole die Geschichte meines neuen Lebens. »Meine Mutter und mein Vater sind bei einem der Zwischenfälle ums Leben gekommen.«
    Das ist immerhin keine richtige Lüge. Die alte Lena war auch Waise; so gut wie, zumindest.
    Ich muss den Hinweis auf die Zwischenfälle nicht näher erläutern. Jeder hat inzwischen davon gehört: Im Januar hat die Widerstandsbewegung ihre ersten größeren und koordinierten Angriffe ausgeführt. In einer Handvoll Städte haben Mitglieder der Widerstandsbewegung – unterstützt von Sympathisanten und teilweise auch von jungen Ungeheilten – gleichzeitig in mehreren bedeutenden städtischen Gebäuden Explosionen verursacht.
    In Portland wurden die Grüfte attackiert. Im darauf folgenden Chaos wurde ein Dutzend Zivilisten getötet. Der Polizei und den Aufsehern gelang es zwar, die Ordnung wiederherzustellen, aber erst, als bereits mehrere Hundert Gefangene geflohen waren.
    Welch Ironie des Schicksals! Meine Mutter hat zehn Jahre lang an einem Tunnel aus diesem Gefängnis gegraben und hätte doch nur noch ein halbes Jahr warten müssen, um einfach herauszuspazieren.
    Mrs Tulle zuckt zusammen.
    »Ja, das habe ich in deiner Akte gelesen.« Hinter ihr summt leise ein Luftbefeuchter. Die Luft ist trotzdem trocken. Das Büro riecht nach Papier und ganz leicht nach Haarspray. Ein Schweißtropfen rollt mir den Rücken hinunter. Der Rock ist zu warm.
    »Wir machen uns Sorgen wegen deiner Anpassungsschwierigkeiten«, sagt sie und sieht mich mit ihren Fischaugen an. »Du hast allein zu Mittag gegessen.« Das ist ein Vorwurf.
    Selbst diese neue Lena wird leicht verlegen; das Einzige, was noch schlimmer ist, als keine Freunde zu haben, ist, dafür bemitleidet zu werden, keine Freunde zu haben. »Um ehrlich zu sein, komme ich nicht so gut mit den Mädchen klar«, sagt die neue Lena. »Ich finde sie ein wenig … unreif.« Beim Sprechen lege ich leicht den Kopf zurück, damit sie die dreieckige Narbe direkt hinter meinem linken Ohr sehen kann: das Zeichen des Eingriffs, das Zeichen dafür, dass ich geheilt bin.
    Umgehend wird ihr Gesichtsausdruck sanfter. »Nun ja, natürlich. Viele von ihnen sind schließlich jünger als du. Noch keine achtzehn, ungeheilt.«
    Ich strecke die Hände aus, wie um zu sagen: So ist das eben .
    Aber Mrs Tulle ist noch nicht fertig mit mir, obwohl ihre Stimme den scharfen Unterton verloren hat. »Mrs Fierstein hat mir gesagt, dass du schon wieder im Unterricht eingeschlafen bist. Wir sind wirklich besorgt, Lena. Hast du das Gefühl, dass die Arbeitsbelastung zu groß ist? Kannst du nachts nicht schlafen?«
    »Ich bin in letzter Zeit ein bisschen im Stress«, räume ich ein. »Mit dieser ganzen VDFA-Sache.«
    Mrs Tulle hebt die Augenbrauen. »Ich wusste gar nicht, dass du in der VDFA bist.«
    »Abteilung A«, sage ich. »Nächsten Freitag findet eine große Kundgebung statt. Deshalb ist heute Nachmittag übrigens auch eine Versammlung in Manhattan. Dazu möchte ich nicht zu spät kommen.«
    »Sicher, sicher. Ich weiß von der Kundgebung.« Mrs Tulle hebt die Blätter hoch und klopft damit auf die Tischplatte, damit die Kanten genau aufeinanderliegen, dann schiebt sie sie in eine Schublade. Offenbar hat sie mir verziehen. VDFA ist das Zauberwort: Vereinigung für ein Deliria-freies Amerika. Sesam, öffne dich. Sie ist jetzt überaus freundlich. »Dein außerschulisches Engagement ist wirklich beeindruckend, Lena. Und wir unterstützen die Arbeit der VDFA. Sieh nur zu, dass du Schule und Freizeit unter einen Hut bekommst. Ich möchte nicht, dass deine Abschlussnoten unter deinem sozialen Engagement leiden, auch wenn es wichtig ist.«
    »Verstehe.« Ich senke den Kopf und mache ein reumütiges Gesicht. Die neue Lena ist eine gute Schauspielerin.
    Mrs Tulle lächelt mich an. »Dann geh jetzt. Wir wollen ja nicht, dass du zu spät zu deiner Versammlung kommst.«
    Ich stehe auf und hänge mir die Tasche über die Schulter. »Danke.«
    Sie nickt mit dem Kopf zur Tür hin, ein Zeichen, dass ich mich entfernen kann.
    Ich wandere durch die geschrubbten Linoleumflure: noch mehr weiße Wände, noch mehr Stille. Alle anderen Schülerinnen sind inzwischen nach Hause gegangen.
    Dann hinaus durch die Doppeltür in die blendend weiße Landschaft: unerwarteter

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