Pandemonium
abgesehen davon ist der Konferenzsaal dunkel und das Foto ist scharf und lebendig. Die Bergspitzen sehen aus wie Klingen und sind bekrönt von schief hängenden weißen Kappen. Mir stockt der Atem. Es ist wunderschön.
Dann verändert sich das Bild. Diesmal blicke ich auf einen hellen Sandstrand und ein bewegtes blaugrünes Meer. Ich trete ein paar Schritte in den Raum und muss einen Schrei unterdrücken. Seit ich Portland verlassen habe, habe ich das Meer nicht mehr gesehen.
Das Bild verändert sich wieder. Jetzt ist die Leinwand voller riesiger Bäume. Sie recken sich in den Himmel, den man gerade so hinter dem Baldachin aus dichten Zweigen erahnen kann. Sonnenstrahlen fallen schräg von oben auf die rötlichen Stämme und das Unterholz aus eingerolltem grünem Farn und Blumen. Als ich noch ein Stück weiter vorgehe – gebannt, wie unter Zwang –, stoße ich gegen einen der metallenen Klappstühle. Augenblicklich springt jemand in der ersten Reihe auf, eine Silhouette schiebt sich vor die Leinwand und verdeckt einen Teil des Waldes. Dann wird die Leinwand leer, die Lichter gehen an und die Silhouette wird zu Julian Fineman. Er hält eine Fernbedienung in der Hand.
»Was machst du hier?«, fragt er. Ich habe ihn ganz offensichtlich überrascht. Ohne meine Antwort abzuwarten, sagt er: »Das Treffen ist vorbei.«
Unter der Aggression spüre ich noch etwas anderes: Verlegenheit. Ich bin mir sicher, dass dies Julian Finemans Geheimnis ist: Er sitzt im Dunkeln und träumt sich irgendwo anders hin. Er schaut sich schöne Bilder an.
Ich bin dermaßen überrascht, dass ich kaum eine Antwort stammeln kann. »Ich … ich habe meinen Handschuh verloren.«
Julian sieht zur Seite. Ich sehe, wie seine Finger die Fernbedienung umklammern. Aber als seine Augen zu mir zurückhuschen, hat er seine Fassung, seine Höflichkeit wiedergewonnen. »Wo hast du denn gesessen?«, fragt er mich. »Ich kann dir suchen helfen.«
»Nein«, platze ich zu laut hervor. Ich bin immer noch wie erstarrt. Die Luft zwischen uns fühlt sich aufgeladen und unbeständig an wie während der Versammlung. Tief in mir drin schmerzt etwas – diese Bilder, dieses Meer, das die riesige Leinwand ausfüllte, all das hat mir das Gefühl gegeben, als könnte ich durch den Raum direkt in den Wald fallen, könnte den Schnee vom Berggipfel lecken wie Sahne von einem Löffel. Ich wünschte, ich könnte Julian Fineman bitten, das Licht auszuschalten und sie mir noch mal zu zeigen.
Aber dieser Junge hier verkörpert alles, was ich verabscheue, und ich werde ihn um überhaupt nichts bitten.
Ich gehe schnell zu meinem Platz von vorhin. Julian beobachtet mich die ganze Zeit, rührt sich jedoch nicht vom Fleck – er steht vollkommen unbeweglich vor der jetzt leeren Leinwand. Nur seine Augen bewegen sich. Ich spüre sie auf meinem Nacken, meinem Rücken, meinen Haaren. Ich finde den Handschuh schnell, hebe ihn vom Boden auf und halte ihn hoch.
»Hab ihn«, sage ich, wobei ich absichtlich seinem Blick ausweiche. Ich gehe zügig Richtung Ausgang. Er hält mich mit einer Frage zurück.
»Wie lange hast du schon da gestanden?«
»Was?« Ich drehe mich wieder um und sehe ihn an. Seine Miene ist jetzt ausdruckslos, undurchdringlich.
»Wie lange warst du da schon? Wie viele Bilder hast du gesehen?«
Ich zögere, frage mich, ob das eine Art Test ist. »Ich habe den Berg gesehen«, sage ich schließlich.
Er sieht zu Boden, dann wieder zu mir. Selbst aus der Entfernung macht mir die Klarheit seiner Augen Angst. »Wir suchen nach Stützpunkten«, sagt er und hebt dabei das Kinn, als rechnete er mit Widerspruch. »Nach Invalidenlagern. Wir nutzen dafür alle möglichen Überwachungstechniken.«
Sicher ist auch: Julian Fineman ist ein Lügner.
Gleichzeitig ist es ein Fortschritt, dass so jemand wie Julian das Wort Invaliden überhaupt in den Mund nimmt. Noch vor zwei Jahren gab es diese angeblich gar nicht. Angeblich waren wir alle während der Offensive ausgelöscht worden. Wir waren Sagengestalten wie Einhörner und Werwölfe.
Das war vor den Zwischenfällen, bevor die Widerstandsbewegung anfing, sich deutlicher bemerkbar zu machen, und man uns nicht länger ignorieren konnte.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich hoffe, ihr findet sie«, sage ich. »Ich hoffe, ihr findet jeden Einzelnen.«
Julian nickt.
Und beim Umdrehen füge ich hinzu: »Bevor sie euch finden.«
Seine Stimme klingt scharf. »Was hast du gesagt?«
Ich werfe ihm einen Blick über die
Weitere Kostenlose Bücher