Pandemonium
ohne auf meine Füße achten zu müssen.
Dann geht es weiter und immer schneller.
Alex lebt. Nur noch ein Stückchen, ein Endspurt, und du wirst sehen.
Als Hana und ich zusammen in der Leichtathletikmannschaft waren, haben wir immer solche kleinen Gedankenspiele gemacht, um uns zu motivieren. Du kannst immer nur so gut sein wie dein Training und dein Training ist immer nur so gut wie dein Bewusstsein. Wenn du die ganzen zwölf Kilometer ohne Gehpausen schaffst, kriegst du fünfzehn Punkte in Geschichte. Solche Sachen haben wir immer zueinander gesagt. Manchmal hat es funktioniert, manchmal nicht. Manchmal gaben wir nach elf Kilometern lachend auf und sagten: Ups! Das war’s dann mit unserer Geschichtsnote.
Die Sache war die: Es war uns nicht wirklich wichtig. Eine Welt ohne Liebe ist auch eine Welt ohne wahren Einsatz.
Alex lebt. Weiter, weiter, weiter. Ich laufe, bis meine Füße geschwollen sind, bis meine Zehen bluten und ich Blasen bekomme. Raven schimpft sogar, als sie Eimer mit kaltem Wasser für meine Füße holt, sagt mir, ich solle vorsichtig sein, warnt mich vor den Gefahren einer Infektion. Man kommt hier nicht leicht an Antibiotika.
Am nächsten Morgen wickele ich meine Zehen in Stoff, zwänge meine Füße in meine Schuhe und laufe wieder. Wenn du es schaffst … nur noch ein bisschen weiter … ein bisschen schneller … du wirst sehen, du wirst sehen, du wirst sehen. Alex lebt.
Ich bin nicht verrückt. Ich weiß natürlich, dass er nicht lebt, dass es nicht sein kann. Sobald ich mit meinen Läufen fertig bin und zurück zum Keller der Kirche humpele, trifft es mich wie ein Schlag: wie dumm das alles ist, wie sinnlos. Alex ist weg, und egal, wie sehr ich renne, mich antreibe oder blute, nichts bringt ihn zurück.
Ich weiß es. Aber es ist so: Wenn ich renne, ist da immer dieser Sekundenbruchteil, wenn mich der Schmerz durchfährt und ich kaum noch Luft bekomme und nichts weiter sehe als verschwommene Farben – und in diesem Sekundenbruchteil, wenn der Schmerz auf dem Höhepunkt und nicht mehr auszuhalten ist und alles grellweiß wird, sehe ich etwas links von mir, ein Aufflackern von Farbe (leuchtend rotbraunes Haar, eine Blätterkrone) –, und dann weiß ich, dass ich nur den Kopf wenden muss, dann ist er da und lacht, beobachtet mich, streckt die Arme nach mir aus.
Natürlich wende ich nie den Kopf. Aber eines Tages werde ich es tun. Eines Tages werde ich es tun und dann ist er wieder da und alles wird gut.
Und bis dahin laufe ich.
jetzt
N
ach dem Treffen der VDFA folge ich der Menge, die hinaus in das Vorfrühlingslicht strömt. Die Energie ist immer noch da, pulsiert durch jeden von uns, aber in der Sonne und der klaren Luft fühlt sie sich aggressiver an, härter: wie der Drang zu zerstören.
Mehrere Busse warten am Straßenrand und die Schlange derer, die einsteigen wollen, zieht sich im Zickzack die Treppen des Javits Center hinunter. Ich warte schon seit einer halben Stunde und habe die Busse bereits dreimal ankommen und wieder abfahren sehen, als ich bemerke, dass ich einen meiner Handschuhe im Konferenzsaal liegengelassen habe. Ich unterdrücke einen Fluch. Hier mitten unter den Geheilten will ich keine Aufmerksamkeit erregen.
Inzwischen stehen nur noch zwanzig Leute vor mir in der Schlange und einen Augenblick überlege ich, ob ich den Handschuh Handschuh sein lassen soll. Aber in den vergangenen sechs Monaten habe ich zu viel über Mangel gelernt: In der Wildnis ist Verschwendung fast eine Sünde und bedeutet auf jeden Fall Pech. Was du heute verschwendest, wird dir morgen fehlen – einer von Ravens Lieblingssprüchen.
Ich trete aus der Schlange, was mir erstaunte Blicke und Stirnrunzeln einbringt, und gehe die Treppe hoch zu den glänzenden Glastüren. Der Aufseher, der vorhin am Metalldetektor stand, ist weg, hat aber ein eingeschaltetes Radio und einen halb vollen Kaffeebecher stehenlassen. Die Frau, die meinen Ausweis kontrolliert hat, ist ebenfalls weg, und auf dem Klapptisch liegen keine VDFA-Broschüren mehr. Die Deckenleuchten sind ausgeschaltet und im Halbdunkel wirkt die Eingangshalle sogar noch größer als sonst.
Als ich die Türen zum Konferenzsaal aufdrücke, habe ich kurz Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Ich sehe mich plötzlich dem riesigen Gipfel eines schneebedeckten Berges gegenüber, als würde ich von oben darauf zufallen. Das Bild wird auf die Leinwand projiziert, auf der vorhin Julian Finemans vergrößertes Gesicht zu sehen war. Aber
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