Pandemonium
vergessen und musste noch mal zurück. Ich habe mit Julian Fineman gesprochen.«
»Du hast was?«, platzt Raven heraus und Tack seufzt und reibt sich die Stirn.
»Nur ungefähr eine Minute lang.« Ich erzähle ihnen beinahe von den Fotos, beschließe dann aber im letzten Moment, es nicht zu tun. »Alles in Ordnung. Es ist nichts passiert.«
»Es ist nicht alles in Ordnung, Lena«, sagt Tack. »Was haben wir dir gesagt? Es ist entscheidend, dass wir nicht auffallen.«
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Tack und Raven ihre Rollen als Thomas und Rebecca – als strenge Wächter – etwas zu ernst nehmen, und ich muss den Drang unterdrücken, die Augen zu verdrehen.
»Es war keine große Sache«, betone ich erneut.
»Alles ist eine große Sache. Kapierst du das nicht? Wir …«
Raven unterbricht ihn. »Sie kapiert es schon. Sie hat es schon tausendmal gehört. Lass sie in Ruhe, okay?«
Tack starrt sie einen Augenblick wortlos an, den Mund zu einem dünnen weißen Strich verzogen. Raven hält seinem Blick ruhig stand. Ich weiß, dass sie wegen etwas anderem wütend aufeinander sind – es geht nicht nur um mich –, aber trotzdem habe ich Schuldgefühle. Ich mache alles nur noch schlimmer.
»Du bist echt unglaublich«, sagt Tack langsam. Ich glaube, das ist nicht für meine Ohren bestimmt.
Dann stürmt er an mir vorbei und trampelt die Treppe hinauf.
»Wo willst du hin?«, fragt Raven und einen Moment flackert etwas in ihren Augen auf – irgendein Wunsch oder Angst. Aber bevor ich es genau identifizieren kann, ist es schon wieder verschwunden.
»Raus«, sagt Tack, ohne anzuhalten. »Hier unten krieg ich keine Luft. Ich kann kaum atmen.« Er betritt die Vorratskammer, die Tür am Kopf der Treppe fällt ins Schloss und Raven und ich bleiben allein zurück.
Einen Moment stehen wir schweigend da. Dann macht Raven eine wegwerfende Handbewegung und lacht gezwungen. »Mach dir seinetwegen keine Sorgen«, sagt sie. »Du weißt ja, wie Tack ist.«
»Ja«, sage ich, aber ich fühle mich komisch. Der Streit hat die Atmosphäre vergiftet. Tack hatte Recht. Hier im Keller ist es drückend und schwül. Normalerweise ist es mein Lieblingsplatz im ganzen Haus, dieser geheime Ort – Tacks und Ravens auch. Es ist der einzige Ort, wo wir die falsche Haut, den falschen Namen, die falsche Vergangenheit ablegen können.
Dieser Raum fühlt sich wenigstens bewohnt an. Oben sieht es aus wie in einem normalen Haus und es riecht wie in einem normalen Haus und es ist voller Normales-Haus-Sachen. Aber es ist irgendwie unwirklich, als wäre es ein paar Zentimeter auf seinem Fundament verrutscht.
Verglichen mit dem Rest der Wohnung herrscht im Keller Chaos. Raven kann gar nicht so schnell aufräumen und gerade rücken, wie Tack Dinge ansammeln und verteilen kann. Bücher – echte Bücher, verbotene Bücher, alte Bücher – sind überall aufgestapelt. Tack sammelt sie. Nein, mehr als das. Er hortet sie, so wie wir anderen Lebensmittel horten. Ich habe versucht, ein paar davon zu lesen, einfach um herauszufinden, wie es in der Zeit vor dem Heilmittel und all den Grenzen war, aber schnell schmerzte mir die Brust: all diese Freiheit, all dieses Gefühl und Leben. Es ist besser, viel besser, nicht allzu viel darüber nachzudenken.
Alex hat Bücher geliebt. Er war derjenige, der mich mit Lyrik in Kontakt brachte. Das ist ein weiterer Grund, warum ich nichts mehr lesen kann.
Raven seufzt und blättert in ein paar Zetteln, die willkürlich auf einem wackeligen Holztisch in der Mitte des Raumes aufgestapelt sind. »Diese verdammte Kundgebung«, sagt sie. »Die macht uns alle ganz kirre.«
»Was ist das Problem?«, frage ich.
Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Dasselbe wie immer. Gerüchte über drohende Ausschreitungen. Im Untergrund heißt es, dass die Schmarotzer versuchen wollen, eine größere Sache durchzuziehen. Aber es ist nichts bestätigt.«
Ravens Stimme nimmt einen harten Unterton an. Ich mag das Wort Schmarotzer noch nicht mal aussprechen. Es hinterlässt einen schlechten Geschmack im Mund, nach Verwesung und Asche. Wir alle – die Invaliden, die Widerstandsbewegung – hassen die Schmarotzer. Sie setzen uns in noch schlechteres Licht. Alle sind sich einig, dass sie viel von dem, was wir zu erreichen suchen, zerstören werden oder bereits zerstört haben. Die Schmarotzer sind Invaliden wie wir, aber sie stehen für nichts ein. Wir wollen die Mauern einreißen und das Heilmittel abschaffen. Die
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