Pandemonium
Leidenschaft zu tun, und Leidenschaft hat zu viel mit Liebe zu tun, und Liebe ist Amor deliria nervosa, die gefährlichste aller Krankheiten. Sie ist der Grund dafür, dass es die »So tun, als ob«-Spiele gibt, die geheimen Ichs, die Krämpfe in der Kehle. Er sagt: »Manchmal habe ich so getan, als wäre ich ein Forscher. Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wohl wäre … woandershin zu reisen.«
Ich muss daran denken, wie ich ihn nach der VDFA-Versammlung getroffen habe: wie er allein im Dunkeln saß und die schwindelerregenden Bilder von Bergen und Wäldern anstarrte.
»Wohin denn, zum Beispiel?«, frage ich und mein Herzschlag beschleunigt sich leicht.
Er zögert. »Einfach irgendwohin«, sagt er schließlich. »Zum Beispiel in andere Städte in den USA.«
Irgendetwas sagt mir, dass er schon wieder lügt; ich frage mich, ob er in Wirklichkeit von der Wildnis gesprochen hat oder von anderen Orten in der Welt – den Orten ohne Grenzen, wo es die Liebe noch gibt, wo sie angeblich inzwischen alle Menschen vernichtet hat.
Vielleicht spürt Julian, dass ich ihm nicht glaube, denn er fährt eilig fort: »Es war bloß Kinderkram. Ich habe das gemacht, wenn ich in den Labors übernachten musste, weil ich Untersuchungen und OPs und so was hatte. Um die Angst zu vertreiben.«
In der Stille kann ich das Gewicht der Erde über unseren Köpfen spüren: endlos schwere Schichten, ohne Luft. Ich versuche das Gefühl abzuschütteln, dass wir für immer hier begraben sein werden. »Hast du jetzt Angst?«, frage ich.
Er zögert nur einen Sekundenbruchteil. »Ich hätte größere Angst, wenn ich allein wäre«, sagt er.
»Ich auch«, entgegne ich. Ich verspüre erneut eine Welle der Sympathie für ihn. »Julian?«
»Ja?«
»Streck die Hand aus.« Ich weiß nicht genau, was mich dazu bringt, das zu sagen – vielleicht ist es die Tatsache, dass ich ihn nicht sehen kann. Es kommt mir im Dunkeln leichter mit ihm vor.
»Wozu?«
»Tu’s einfach«, sage ich und höre, wie er sich umdreht; er streckt die Hand über die Lücke zwischen unseren Pritschen aus. Ich strecke meine ebenfalls aus und spüre seine Hand, die kühl ist, groß und trocken, und er zuckt kurz, als seine Haut meine berührt.
»Meinst du, wir sind sicher?«, fragt er. Seine Stimme ist rau.
Ich weiß nicht genau, ob er sich auf die Deliria bezieht oder auf unsere Situation, aber er lässt zu, dass ich meine Finger mit seinen verschränke. Ich merke, dass er noch nie die Hand von jemandem gehalten hat. Er muss einen Moment herumtasten, bis er verstanden hat, wie es geht.
»Uns geschieht nichts«, sage ich. Ich weiß nicht genau, ob ich das glaube oder nicht. Er drückt kurz meine Hand, was mich überrascht – vermutlich gibt es Dinge, die man automatisch macht, selbst wenn man sie nie zuvor getan hat. Wir halten uns in der Dunkelheit an der Hand, und nach einer Weile höre ich, wie er langsamer und tiefer atmet, und ich schließe die Augen und denke an Wellen, die langsam ans Ufer rollen. Nach kurzer Zeit schlafe ich auch ein und in meinem Traum fahre ich mit Grace Karussell und sehe lachend dabei zu, wie sich all die Holzpferde plötzlich langsam von ihrem Platz lösen und in den Himmel galoppieren.
damals
D
rei Tage lang hält das Wetter. Der Wald ist eine Symphonie aus Knacken und Krachen, als die Bäume und der Fluss ihre Eisschicht abwerfen. Dicke Wassertropfen wie Juwelen fallen uns auf die Köpfe, während wir im Wald nach Beeren und guten Jagdplätzen suchen. Ein ausgeprägtes Gefühl der Erleichterung und Begeisterung macht sich breit, fast so, als wäre bereits der Frühling da, obwohl wir wissen, dass dies vielleicht nur eine Schonfrist ist. Raven ist die Einzige, die nicht glücklich wirkt.
Wir müssen jetzt ständig nach Nahrung Ausschau halten. Am dritten Morgen gehe ich mit Raven nach den Fallen gucken. Jedes Mal, wenn wir eine leere finden, flucht sie leise. Die Tiere haben sich zum Großteil schon unter die Erde verkrochen.
Bevor wir zur letzten Falle kommen, hören wir das Tier, und Raven beschleunigt ihren Schritt. Auf den brüchigen Blättern, die den Waldboden bedecken, ertönt ein verzweifeltes Scharren und außerdem ein panisches Quieken. Ein großes Kaninchen ist mit dem Hinterlauf in die Metallklammer der Falle geraten. Sein Fell ist mit dunklen Blutflecken übersät. Voller Panik versucht das Tier sich zu befreien; dann fällt es keuchend zurück auf die Seite.
Raven geht in die Hocke und zieht ein Messer mit langem
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