Pandemonium
zu jener fürchterlichen Morgendämmerung an der Grenze, als die Sonne sich über die Bucht schob wie ein sich langsam ausbreitender Fleck.
Sie sagt: »Hast du nicht versucht, mit jemand anderem über die Grenze zu kommen? Wir haben die Gerüchte gehört. Du warst mit jemandem zusammen …« Und dann, als fiele es ihr gerade erst ein, obwohl mir jetzt klar ist, dass sie es die ganze Zeit gewusst hat – natürlich hat sie es gewusst –, und Hass und Wut türmen sich so schnell in mir auf, dass ich fürchte zu ertrinken: »Er hieß Alex, nicht wahr?«
Ich bin schon gesprungen und stürze mich auf sie, bevor ich überhaupt gemerkt habe, dass ich mich bewege. Ich habe das Messer in der Hand und werde es ihr direkt durch die Kehle bohren, sie verbluten lassen und ausnehmen und sie dann hierlassen, damit die Tiere sie zerfetzen.
Als ich auf ihr lande, boxt sie mich in die Rippen, so dass ich das Gleichgewicht verliere. Gleichzeitig packt sie mit ihrer linken Hand mein rechtes Handgelenk, sie zieht mich fest nach unten und stößt das Messer direkt in den Hals des Kaninchens, genau an der Stelle, wo sie seine Ader freigelegt hat. Ich stoße einen kleinen Schrei aus. Ich halte immer noch das Messer und sie umschließt noch immer meine Hand. Das Kaninchen zuckt einmal unter meiner Hand und bleibt dann unbeweglich liegen. Einen Moment stelle ich mir vor, dass ich seinen leichten Herzschlag noch unter den Fingerspitzen spüren kann, ein schnelles Echo. Der Körper des Kaninchens ist warm. Ein kleines bisschen Blut sickert um die Messerspitze heraus.
Raven und ich sind uns so nah, dass ich ihren Atem und den Schweiß in ihren Kleidern riechen kann. Ich versuche mich von ihr loszureißen, aber sie umklammert mich nur noch fester. »Sei nicht wütend auf mich«, sagt sie. »Ich hab das nicht getan.« Zur Betonung drückt sie meine Hand ein bisschen weiter runter. Das Messer dringt noch einen Zentimeter in das Kaninchen ein und mehr Blut steigt an seiner Spitze auf.
»Du Arschloch«, sage ich und plötzlich weine ich zum ersten Mal, seit ich in die Wildnis gekommen bin; zum ersten Mal, seit Alex tot ist. Mir schnürt sich die Kehle zu und ich bekomme die Wörter kaum heraus. Meine Wut verebbt jetzt und wird von einer wahnsinnigen Trauer um dieses blöde, dumme, vertrauensselige Tier ersetzt, das zu schnell gerannt ist und nicht auf den Weg geachtet hat und dann immer noch – selbst nachdem sein Bein von der Falle zerschnitten worden war – dachte, es könne entkommen. Dumm, dumm, dumm.
»Es tut mir leid, Lena. Aber so ist es nun mal.« Und Raven sieht wirklich aus, als täte es ihr leid: Ihr Blick ist jetzt sanfter geworden und ich kann erkennen, wie satt sie es hat – und schon immer gehabt haben muss –, Jahr um Jahr so leben, aufschlitzen und zerhacken zu müssen, nur um etwas Raum zum Atmen zu haben.
Endlich lässt Raven mich los und befreit das tote Kaninchen schnell und gekonnt aus der Falle. Sie zieht das Messer aus dem Kaninchenkörper, wischt es einmal am Boden ab und steckt es in ihren Gürtel. Die Beine des Kaninchens schlingt sie durch einen Metallring an ihrem Rucksack, so dass das Tier kopfunter über dem Boden baumelt. Als sie aufsteht, schwingt es wie ein Pendel hin und her. Sie sieht mich immer noch an.
»Und jetzt überleben wir wieder einen Tag«, sagt sie, dreht sich um und geht davon.
Ich habe mal etwas über eine Pilzart gelesen, die in Bäumen wächst. Der Pilz dringt in die Gefäße ein, die Wasser und Nährstoffe von den Wurzeln in die Zweige transportieren. Er vernichtet sie nach und nach – er verdrängt sie. Bald transportiert der Pilz – und nur der Pilz – das Wasser, die chemischen Elemente und alles, was der Baum sonst noch zum Überleben braucht. Gleichzeitig zerstört er den Baum langsam von innen, bringt ihn nach und nach zum Absterben.
So funktioniert Hass. Er nährt dich und bringt dich gleichzeitig zum Absterben.
Er ist hart und tief und kantig, ein System aus Blockaden. Er ist allumfassend.
Hass ist ein hoher Turm. In der Wildnis fange ich an zu bauen und zu klettern.
jetzt
I
ch wache davon auf, dass eine Stimme »Tablett!« brüllt. Als ich mich aufsetze, sehe ich, dass Julian zur Tür gegangen ist. Er kauert auf Händen und Knien, wie ich gestern, und versucht einen Blick auf unseren Entführer zu erhaschen.
»Eimer!«, ist der nächste barsche Befehl, und ich bin erleichtert, aber auch voller Mitgefühl, als Julian den Blecheimer aus der Ecke holt, der
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