Pandemonium
Griff aus der Tasche. Es ist scharf, aber mit Rost und – wie ich vermute – altem Blut befleckt. Ich weiß, wenn wir das Kaninchen hierlassen, wird es sich hin und her winden und zerren, bis es verblutet – oder, was wahrscheinlicher ist, es wird schließlich aufgeben und langsam verhungern. Raven tut ihm also einen Gefallen, wenn sie es schnell tötet. Trotzdem kann ich nicht zusehen. Ich hatte noch nie die Aufgabe, die Fallen zu überprüfen. Mein Magen macht das nicht mit.
Raven zögert. Dann drückt sie mir plötzlich das Messer in die Hand.
»Hier«, sagt sie, »du machst das.« Ich weiß, dass es nichts damit zu tun hat, dass sie selbst zu empfindlich ist. Sie geht dauernd auf die Jagd. Es ist nur mal wieder einer ihrer Tests.
Das Messer ist erstaunlich schwer. Ich sehe das Kaninchen an, das scharrend und zuckend auf dem Boden liegt. »Ich … ich kann nicht. Ich habe noch nie ein Lebewesen getötet.«
Ravens Blick ist hart. »Tja, dann wird’s Zeit, dass du es lernst.« Sie legt beide Hände auf das sich krümmende Tier – eine auf den Kopf, die andere auf den Körper –, um es festzuhalten. Das Kaninchen muss denken, dass sie ihm helfen will. Es wehrt sich nicht mehr. Trotzdem kann ich sehen, wie schnell und verzweifelt es atmet.
»Zwing mich nicht dazu«, sage ich. Ich schäme mich einerseits dafür, dass ich sie anflehe, andererseits bin ich wütend, dass sie das von mir verlangt.
Raven steht wieder auf. »Du hast es immer noch nicht kapiert, oder? Das ist kein Spiel, Lena. Und es ist hier nicht zu Ende oder wenn wir im Süden sind oder sonst irgendwann. Was da im Stützpunkt passiert ist …« Sie bricht ab und schüttelt den Kopf. »Es gibt für uns nirgends einen Platz. Nicht, bevor sich die Dinge verändern. Sie jagen uns. Sie bombardieren unsere Stützpunkte und fackeln sie ab. Die Grenzen werden wachsen und die Städte sich ausdehnen und irgendwann wird keine Wildnis mehr übrig sein und niemand, der kämpft, und nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Kapierst du das?«
Ich sage nichts. Mir steigt Hitze in den Nacken und ich fühle mich benommen.
»Ich werde nicht ewig in deiner Nähe sein, um dir zu helfen«, sagt sie und kniet sich wieder hin, ein Bein aufgestellt. Diesmal schiebt sie mit den Fingern das Fell des Kaninchens auseinander, wodurch am Hals ein Stück rosafarbene Haut zum Vorschein kommt, eine pulsierende Ader. »Hier«, sagt sie. »Tu’s.«
Da wird mir klar, dass es diesem Tier unter ihren Händen genauso geht wie uns: Es ist gefangen, aus seinem Zuhause vertrieben und es ringt verzweifelt um Atem, um ein paar Zentimeter Platz. Und plötzlich bin ich unglaublich wütend auf Raven – wegen ihrer Vorträge, ihrer Sturheit und weil sie denkt, dass man Leuten hilft, indem man sie mit dem Rücken zur Wand stellt und sie verprügelt, bis sie zurückschlagen.
»Ich halte das hier nicht für ein Spiel«, sage ich und kann die Wut in meiner Stimme nicht unterdrücken.
»Was?«
»Du glaubst, du wärst die Einzige, die über irgendwas Bescheid weiß.« Ich balle die Fäuste, eine an meinem Bein, die andere um den Messergriff. »Du glaubst, du wärst die Einzige, die weiß, wie es ist, wenn man jemanden verliert oder wenn man wütend ist. Du glaubst, du wärst die Einzige, die etwas übers Abhauen weiß.« Ich muss an Alex denken und dafür hasse ich sie auch; dass sie diese Gedanken verursacht. Trauer und Wut steigen in mir auf wie eine schwarze Welle.
»Ich glaube nicht, dass ich die Einzige bin«, sagt Raven. »Wir haben alle etwas verloren. So sind jetzt die Regeln, nicht wahr? Sogar in Zombieland. Sie verlieren vielleicht sogar mehr als wir.« Sie hebt den Blick und sieht mich an. Aus irgendeinem Grund kann ich nicht aufhören zu zittern.
Raven spricht leise und eindringlich. »Es gibt noch etwas, das du auch gleich noch lernen kannst: Wenn du etwas willst, wenn du dir etwas nimmst, nimmst du es immer jemand anderem weg. Das ist auch eine Regel. Und etwas muss sterben, damit andere leben können.«
Mein Atem hält inne. Einen Moment hört die Welt auf sich zu drehen und da ist nichts weiter als Stille und Ravens Augen.
»Aber das weißt du ja schon, Lena, nicht wahr?« Sie hebt nicht die Stimme, aber ich kann ihre Worte geradezu körperlich spüren – mein Kopf dröhnt, in meiner Brust sitzt ein sengender Schmerz. Ich kann nichts weiter denken als: Sag’s nicht, sag’s nicht, sag’s nicht , und stürze in die langen dunklen Tunnel ihrer Augen, zurück
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