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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Pritsche her ist ein Rascheln zu hören und als er spricht, merke ich, dass er sich mir zugewandt hat. »Erzähl mir von ihr«, sagt er sanft.
    Ich starre in die Dunkelheit hinauf, die voller wirbelnder Muster zu sein scheint. »Sie probierte gerne Sachen in der Küche aus«, sage ich langsam. Ich darf ihm nicht zu viel erzählen. Ich darf nichts sagen, das seinen Verdacht erregen könnte. Aber die Dunkelheit macht die Sache einfacher, deshalb fahre ich fort: »Ich saß immer auf der Arbeitsplatte und sah ihr bei ihrer chaotischen Arbeit zu. Das meiste, was sie hervorbrachte, landete im Müll. Aber es war immer lustig und hat mich zum Lachen gebracht.« Ich halte kurz inne. »Ich kann mich erinnern, dass sie einmal Chilipfannkuchen gemacht hat. Die waren nicht schlecht.«
    Julian schweigt. Sein Atem geht jetzt wieder gleichmäßig.
    »Sie hat auch Spiele mit mir gespielt«, sage ich.
    »Wirklich?« Julians Stimme klingt fast ehrfürchtig.
    »Ja. Echte Spiele, nicht nur diesen Förderkram, der im Buch Psst empfohlen wird. Sie hat immer so getan …« Ich breche ab und beiße mir auf die Lippen, besorgt, zu weit gegangen zu sein.
    »Wie getan?«
    In meiner Brust baut sich ein verrückter Druck auf und jetzt drängt alles hervor, mein wahres Leben, mein altes Leben – das klapprige Haus in Portland, das Geräusch des Wassers und der Geruch in der Bucht; die geschwärzten Wände der Grüfte und die smaragdgrünen Diamantmuster der Sonne, die schräg durch die Bäume in der Wildnis schien; all diese anderen Ichs, die in mir übereinandergestapelt und begraben sind, damit sie niemand findet. Und plötzlich habe ich das Gefühl, weiterreden zu müssen; wenn ich das nicht tue, werde ich explodieren. »Sie hatte einen Schlüssel und hat so getan, als könnte man damit Türen zu anderen Welten aufschließen. Es war einfach ein ganz normaler Schlüssel – ich weiß nicht, wo sie ihn herhatte, von irgendeinem Garagenflohmarkt wahrscheinlich –, aber sie bewahrte ihn in einer roten Schachtel auf und holte ihn nur zu besonderen Gelegenheiten hervor. Und dann taten wir so, als würden wir durch lauter verschiedene Dimensionen reisen. In einer Welt hielten Tiere Menschen als Haustiere; in einer anderen konnten wir auf dem Schweif von Sternschnuppen reiten. Es gab auch eine Unterwasserwelt und eine, in der die Menschen den ganzen Tag über schliefen und die ganze Nacht hindurch tanzten. Meine Schwester hat auch mitgespielt.«
    »Wie hieß sie?«
    »Grace«, sage ich. Mir schnürt sich die Kehle zu und jetzt vermische ich Personen und Orte, vermische Leben. Meine Mutter ist verschwunden, bevor Grace überhaupt geboren wurde; außerdem war Grace meine Großcousine. Aber eigenartigerweise kann ich es mir vorstellen: wie meine Mutter Grace hochhebt, sie in einem weiten Kreis herumschwingt, während verzerrte Musik aus den Lautsprechern quäkt; wie wir alle drei durch den langen Flur galoppieren und so tun, als würden wir einen Stern fangen. Ich klappe den Mund auf, um noch mehr zu sagen, aber ich stelle fest, dass es nicht geht. Ich bin kurz davor zu weinen und muss das Gefühl energisch runterschlucken, während sich meine Kehle zusammenzieht.
    Julian schweigt eine Weile. Dann sagt er: »Ich habe auch oft so getan, als ob.«
    »Ja?« Ich drücke mein Gesicht ins Kissen, um das Zittern in meiner Stimme zu dämpfen.
    »Ja. Vor allem in den Krankenhäusern und den Labors.« Noch eine kurze Pause. »Ich habe immer so getan, als wäre ich wieder zu Hause. Ich vertauschte die Geräusche gegen andere Dinge, weißt du? Zum Beispiel das Piepen des EKG-Geräts – das war einfach nur das ›piep-piep-piep‹ der Kaffeemaschine. Und wenn ich Schritte hörte, tat ich so, als wären es meine Eltern, auch wenn sie es nie waren; und ich tat so, als käme der Geruch – weißt du, wie Krankenhäuser riechen? Nach Bleichmittel und ein kleines bisschen nach Blumen? – daher, dass meine Mutter Bettwäsche wusch.«
    Der Krampf in meiner Kehle hat nachgelassen und ich bekomme jetzt wieder besser Luft. Ich bin Julian dankbar; dafür, dass er nicht gesagt hat, das Verhalten meiner Mutter käme ihm unkontrolliert vor, dafür, dass er nicht misstrauisch wird oder Fragen stellt. »Beerdigungen riechen auch so«, sage ich. »Nach Bleichmittel. Und auch nach Blumen.«
    »Ich mag den Geruch nicht«, sagt Julian leise. Wenn er weniger gut erzogen und unvorsichtiger wäre, würde er sagen, er hasse den Geruch. Aber das kann er nicht; es hat zu viel mit

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