Pandemonium
Geschichten«, sage ich noch einmal. Meine Stimme klingt grob, ein Bellen.
»Jeder kennt …«, hebt Julian an.
Ich schneide ihm das Wort ab. »Ich nicht«, sage ich und erhebe mich von der Pritsche. Es juckt mich am ganzen Körper; ich versuche das Jucken wegzulaufen.
Der Rest des Tages vergeht, ohne dass wir ein Wort wechseln. Ein paarmal sieht Julian aus, als wollte er etwas sagen, daher gehe ich schließlich zu meiner Pritsche, strecke mich darauf aus, schließe die Augen und tue so, als würde ich schlafen. Aber ich schlafe nicht.
Die immer gleichen Worte schwirren mir im Kopf herum: Es muss einen Weg hier raus geben. Es muss einen Weg hier raus geben.
Der Schlaf kommt erst viel später, nachdem das elektrische Licht erneut ausgeschaltet wird. Schlafen ist wie langsames Versinken, wie Ertrinken im Nebel. Allzu bald bin ich wieder wach. Mit klopfendem Herzen setze ich mich auf.
Julian auf der Pritsche neben mir schreit im Schlaf und murmelt unverständliche Wörter. Das einzige, das ich verstehen kann, ist Nein .
Ich warte ein bisschen, ob er von allein aufwacht. Er tritt und schlägt um sich. Das metallene Bettgestell quietscht.
»He«, sage ich. Sein drängendes Gemurmel hält an und ich sage etwas lauter: »He, Julian.«
Immer noch keine Antwort. Ich strecke den Arm aus und taste im Dunkeln nach ihm. Seine Brust ist schweißnass. Ich finde seine Schulter und schüttele ihn sanft.
»Wach auf, Julian.«
Schließlich kommt er keuchend zu sich und zuckt vor meiner Berührung zurück. Er setzt sich auf. Ich höre das Rascheln der Matratze, als er sein Gewicht verlagert, und ich kann gerade so seinen Umriss erkennen, ein tieferes Schwarz. Einen Moment sitzen wir schweigend da. Er atmet heftig. Ein kratzendes Geräusch dringt aus seiner Kehle. Ich lege mich wieder hin und lausche in der Dunkelheit auf seinen Atem, warte darauf, dass er sich verlangsamt.
»Wieder Albträume?«, frage ich.
»Ja«, sagt er nach einem kurzen Augenblick.
Ich zögere. Ein Teil von mir möchte, dass ich mich umdrehe und weiterschlafe. Aber jetzt bin ich richtig wach und die Dunkelheit ist bedrückend.
»Willst du drüber reden?«, frage ich.
Julian schweigt eine ganze Weile. Dann sprudeln die Worte aus ihm heraus.
»Ich war in einem Laborkomplex«, sagt er. »Und davor stand ein hoher Zaun. Aber da waren all diese … Ich kann es nicht richtig erklären, aber es war kein richtiger Zaun. Er bestand aus Körpern. Leichen. Die Luft war schwarz von Fliegen.«
»Erzähl weiter«, flüstere ich, als Julian erneut innehält.
Er schluckt. »Als es Zeit für meinen Eingriff war, wurde ich auf einen Tisch geschnallt und musste den Mund aufmachen. Zwei Wissenschaftler hielten meine Kiefer auseinander und mein Vater – er war auch da – hob einen riesigen Kübel Zement hoch und ich wusste, er würde ihn mir in den Hals gießen. Und ich habe geschrien und versucht ihn abzuwehren, und er hat immer wieder gesagt, es würde sich gut anfühlen, es würde alles besser werden, und dann floss der Zement in meinen Mund und füllte ihn aus und ich bekam keine Luft …«
Julian bricht ab. In meiner Brust zieht sich alles zusammen. Eine verrückte Sekunde lang habe ich das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen – aber das wäre schrecklich und auf tausend Ebenen völlig daneben. Julian scheint es besser zu gehen, nachdem er mir von dem Traum erzählt hat, denn er legt sich wieder hin.
»Ich habe auch Albträume«, sage ich, dann verbessere ich mich schnell. »Hatte, meine ich.«
Selbst in der Dunkelheit kann ich spüren, wie Julian mich anstarrt.
»Willst du drüber reden?« Er benutzt genau dieselben Worte wie ich.
Ich muss an die Albträume von meiner Mutter denken, die ich früher hatte: Träume, in denen ich hilflos dabei zusah, wie sie von einer Klippe sprang. Ich habe nie jemandem davon erzählt. Noch nicht mal Alex. Die Träume hörten auf, nachdem ich herausgefunden hatte, dass meine Mutter die ganzen Jahre über, in denen ich sie für tot gehalten hatte, in den Grüften am Leben war. Aber jetzt haben meine Albträume eine neue Form angenommen. Jetzt sind sie voller Feuer und da ist Alex und es gibt Dornen, die zu Ketten werden und mich in die Erde zerren.
»Ich hatte früher Albträume von meiner Mutter«, sage ich. Ich stolpere ein wenig über das Wort Mutter , hoffe aber, dass es ihm nicht auffällt. »Sie ist gestorben, als ich sechs war.« Das könnte genauso gut wahr sein. Ich werde sie nie wiedersehen.
Von Julians
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