Pandoras Tochter
Familie und war ein solcher Bücherwurm, dass mir keine Zeit blieb, viele Freundschaften zu schließen. Und nachdem er mir gesagt hatte, dass er mir die Chronik übergeben würde, habe ich die wenigen Freunde, die ich hatte, aufgegeben.« Sie wandte sich ab. »Keine Angst, ich habe mich lange Zeit darauf vorbereitet. Ich rufe Sie morgen an, wenn ich irgendwo untergekommen bin.« Sie wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern steuerte den Ausgang des Parks an.
»Was soll das heißen?«, murmelte Megan, während Renata außer Sicht war. »Sie hat ihre Freunde aufgegeben, weil sie wusste, dass sie eines Tages die Verantwortung für die Chronik tragen würde? Damals musste sie noch ein halbes Kind gewesen sein.«
»Offenbar hat Gillem Gehirnwäsche betrieben«, meinte Harley.
Megan wirbelte zu ihm herum. »Das hat er nicht getan. So etwas hätte er niemals gemacht. Er hatte sie gern, das weiß ich.«
»Okay, okay.« Harley hob abwehrend die Hände. »War nur so ein Gedanke.«
»Sie will die Chronik genauso beschützen wie er. Und es muss ihm schwergefallen sein, sie in eine solche Gefahr zu bringen.« Megan ging los. »Anscheinend hat sich ihre ganze Welt nur um diese verdammte Chronik gedreht.«
»Und das tut sie noch«, ergänzte Grady, der ihr folgte. »Und unsere Welt scheint ein Spiegelbild der ihren zu werden. Kommst du, Harley?«
»Noch nicht. Ich gebe Renata noch ein paar Minuten, dann gehe ich ihr nach.«
»Was?«
»Ich habe auf dem Weg hierher einen Sender in ihre Jacke gesteckt.« Er holte einen Mini-Empfänger aus der Tasche. »Ursprünglich hatte ich vor, die Wanze in ihrer Wohnung zu installieren, aber dann wollte ich verhindern, dass sie einfach so in der Versenkung verschwindet. Ich traue ihr nicht.«
»Ich habe lange Zeit gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass sie von uns nichts zu befürchten hat. Falls sie die Wanze findet und sauer wird, bekommen Sie was von mir zu hören.«
»Ihnen würde noch weniger gefallen, wenn sie abhaut und wir nicht wissen, wo sie steckt.« Harley machte sich auch auf den Weg. »Vertrauen Sie mir. Ich bin vorsichtig.«
Renata klappte ihr Handy auf, sobald sie in ihrem Wagen saß. Sie erreichte Mark in Berlin. »Ich musste heute Nacht einen Mann töten. Molino weiß, dass ich die Chronik habe. Megan Blair ist hergekommen und hat ihn auf meine Fährte gebracht. Ich bin auf der Flucht.«
»Megan Blair …«, wiederholte Mark nachdenklich. »Du hast vorausgesehen, dass sie auf dich zukommen könnte.«
»Das war eins von drei möglichen Szenarien. Es hing davon ab, ob sie mit Grady zusammenkommt. Das ist sie. Sie möchte Molino mit der Chronik eine Falle stellen.«
Mark lachte leise. »Unglaublich. Aber wenigstens hat sie die richtigen Ziele. Findest du eine Möglichkeit, sie für dich einzusetzen?«
»Kann sein.« Sie schwieg einen Moment. »Sie ist eine Lauscherin, Mark. Sie hat Edmunds Ende erlebt. Es war … schlimm.«
»Das hatten wir bereits vermutet.«
»Aber ich wusste es nicht.« Sie bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Sie sagte … er hat für mich gebetet.«
»Er hat gebetet, dass du stark genug bist, die Chronik sicher zu verwahren.«
»Das glaube ich nicht.«
»Renata!«
»Mir geht’s gut. Es war nur ein Schock für mich.« Sie räusperte sich. »Und du weißt, dass ich auf die Chronik aufpasse.«
»Dann finde einen Weg, Megan Blair für deine Zwecke auszunützen. Molino kommt dir allmählich zu nahe.«
»Sie gehört zur Familie, Mark.«
»Und es geht um Molino, Renata.«
Natürlich hatte er recht. Megan Blair hatte, indem sie nach München gekommen war, nicht nur ihre Sicherheit gefährdet, sondern auch die der Chronik. Sie musste den Instinkt, die Familienmitglieder zu schützen, ignorieren. Opfer waren manchmal unvermeidlich. »Ich weiß, dass wir ihn ausschalten müssen. Ich werde dich nicht enttäuschen.«
»Hier geht es nicht um mich, sondern um die Familie. Ich bin überzeugt, dass du nicht scheitern wirst. Melde dich, wenn du Hilfe brauchst. Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen.« Damit unterbrach er die Verbindung.
Ja, ich weiß, dass Mark immer für mich da ist und mir auf jede nur erdenkliche Weise helfen würde, dachte sie, als sie das Handy zuklappte. Aber seine Problemlösungen waren manchmal ziemlich hastig und tödlich. Ihr widerstrebte es, ihn auf Megan Blair loszulassen.
Erst würde sie versuchen, die Sache allein zu regeln.
Es war kurz vor vier Uhr morgens, als Megan und Grady ins
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