Pandoras Tochter
richtete den Blick auf Megan und Renata, die ein paar Meter von ihnen entfernt auf einer Parkbank saßen. »Was, zum Teufel, haben sie sich zu sagen?«
»In diesem Punkt möchte ich keine Vermutungen anstellen«, erwiderte Harley. »Und ich bin kein bisschen neugierig.« Er sah Grady verschlagen an. »Aber dich macht es sicherlich wahnsinnig, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Für dich ist es nicht leicht, wenn du ins Abseits gestellt wirst. Wie auch immer – ich möchte wetten, dass Renata Wilger eine harte Nuss ist. Wahrscheinlich würde sie am liebsten weglaufen, und Megan hat alle Hände voll zu tun, sie davon abzuhalten. Erstaunlich, dass sie so viel Geduld aufbringt.«
Grady überraschte das nicht. Megan war in mancher Hinsicht flatterhaft, aber sie konnte sich auch auf ein Ziel konzentrieren. »Sie will die Chronik, und Renata ist der Schlüssel dazu. Megan würde sie nie weglassen. Was wissen wir über Renatas Hintergrund?«
»Ihre Eltern sind beide tot. Ihr Vater war Deutscher, ihre Mutter amerikanische Staatsbürgerin. Den größten Teil ihrer Kindheit verbrachte sie in Boston bei ihrer Mutter. Keine Geschwister. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr ist sie so ziemlich allein – sie hat nur noch einen entfernten Cousin – Mark Altmann –, der sie in den Ferien, wenn das Internat geschlossen war, zu sich nahm. Offenbar ist sie hochbegabt; sie hatte Stipendien für die Schule und fürs Studium. Vor zwei Jahren hat sie in Harvard ihren Doktor in Betriebswirtschaft gemacht und eine Anstellung bei einer Investmentfirma angenommen, für die sie gejobbt hat, seit sie sechzehn war. Sie ist total auf ihre Arbeit fixiert und immer auf der Überholspur.« Harley holte Luft. »Es wird schwer für sie, wenn sie ihren Job aufgeben und von hier wegmuss.«
»Schlimmer wäre, wenn sie Molino in die Hände fiele«, meinte Grady. »Was ist mit diesem Cousin? Kann Molino über ihn an Renata herankommen?«
»Er hat einiges erlebt. Er war Agent beim Mossad, dem israelischen Geheimdienst, bevor er in den Ruhestand gegangen ist.« Harley wiegte betrübt den Kopf. »Und ich kann mir vorstellen, er hat Renata einige Dinge beigebracht, die man nicht aus Büchern lernen kann. Sie ist ein giftiger kleiner Skorpion.«
»Ich schätze, diese Lektionen könnten das Wertvollste sein, was sie je gelernt hat. War ihr Vater Jude?«
»Ja. Seine Großeltern waren in Auschwitz, und die meisten Verwandten sind nach dem Krieg nach Israel ausgewandert. Er blieb in München, hielt aber engen Kontakt zu seiner Familie dort.«
»Besteht eine Verwandtschaft zu Edmund Gillem?«
»Soweit ich weiß, nicht. Lass mir ein bisschen Zeit. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, mich eingehender mit Renata Wilger zu befassen.« Sein Blick schweifte zu den Frauen. »Aber vielleicht übernimmt das Megan für mich.«
»Verlass dich nicht zu sehr drauf. Im Augenblick scheint Megan das Reden übernommen zu haben.« Noch ehe er das letzte Wort ausgesprochen hatte, erhoben sich Megan und Renata und kamen auf sie zu. »Wenigstens läuft dein Skorpion nicht in die andere Richtung.«
Die Gesichter der beiden Frauen drückten Argwohn aus. Keine Feindseligkeit, keine Freundschaft – Argwohn.
»Sie überlässt uns die Chronik nicht«, verkündete Megan. »Aber sie hat freundlicherweise erlaubt, dass wir ihr den Hals retten.«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen«, sagte Renata. »Aber Megan meinte, dass ihr hinter Molino her seid. Ich kann ihn nicht allein zur Strecke bringen.« Sie starrte Grady an. »Ich will Molinos Tod. Er muss sterben. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um das herbeizuführen. Wenn ich jedoch das Gefühl habe, dass die Chronik in Gefahr ist, bin ich weg.«
»Mieten Sie sich im Hotel ein, damit wir ein Auge auf Sie haben können?«, erkundigte sich Harley.
Sie verneinte. »Aber ich melde mich.«
»Haben Sie Freunde, bei denen Sie bleiben können, Renata?«
»Machen Sie Witze? Wenn ich mich bei ihnen verkriechen würde, wäre ich eine miserable Freundin. Edmund hat mir schon vor Jahren eröffnet, dass er mir die Chronik in Verwahrung gibt, wenn die Dinge für ihn schieflaufen. Er hat mich beobachtet, seit ich ein kleines Mädchen war. Er wohnte bei uns, wann immer er in München war, und er war wie ein Bruder für mich. Ich dachte, er wäre nur Marks Freund, aber dann sagte er mir, dass er mich als Bewahrerin auserwählt hätte. Er fand, ich sei perfekt für diese Aufgabe geeignet. Ich hatte bis auf Mark keine
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