Pangea - Der achte Tag
sofort hastig, aber sorgfältig auf alle Stellen, die noch von Käfern befallen waren.
Danach war es vorbei. Die Käfer hatten ihr Werk getan. Liya wartete auf den brennenden Juckreiz, aber der blieb aus, was Liya Biaos Speichel zuschrieb. Die Wundränder ihrer unzähligen Verletzungen waren nun sauber und eiterten nicht mehr. Liya konnte förmlich spüren, wie das Fieber sank. Zwar fühlte sie sich noch schwach und benommen, aber sie spürte, wie sie sich zunehmend erholte. Um die Wunden vor erneuter Entzündung zu schützen, hüllte sie sich eng in ihren Kyrrschal und fiel in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Ohne auch nur ein Feuer zu entzünden, blieb sie den ganzen Tag über an jener Stelle und auch die ganze nächste Nacht. Erst am nächsten Morgen fühlte sie sich kräftig genug, weiterzureiten. Die Wunden verheilten unglaublich schnell und waren bereits rosig verschlossen. Mit Glück würden keine Narben zurückbleiben.
Biao trug sie treu und in gewohnt betulichem Tempo weiter ins Gebirge hinein. Stetig bergauf, was ihn noch langsamer machte. Aber in ihrem Zustand empfand Liya Biaos Behäbigkeit als beruhigend. Sie hatte es sich auf seinem Rücken bequem gemacht und genoss das Gefühl, allmählich wieder zu Kräften zu kommen. Biaos Hautfarbe leuchtete hell und freundlich unter der Staubschicht des Wüstensandes. Ein Zeichen für seine gute Laune. Er schien froh zu sein, Liya gerettet zu haben, vielleicht sogar stolz. Liya überlegte, ob Kalmare so etwas wie Stolz empfinden konnten. Jedenfalls benahmen sie sich oft so. Liya hatte es immer wieder beobachtet: Biao konnte beleidigt sein, fröhlich, manchmal schien er sogar so etwas wie Humor zu besitzen. Nur ein Gefühl schienen Kalmare nicht zu kennen: Angst. Unruhe bei drohender Gefahr war das Äußerste. Ihre Sinne schärften sich, ohne das geringste Anzeichen von Panik oder Furcht. Diese Beobachtung hatte in Liya die Vermutung wachsen lassen, dass die Kalmare die wahren Herrscher von Pangea waren.
Liebevoll tätschelte Liya Biaos Kopf. Seine Antwort war ein freundliches Pfeifen, während er sich weiter durch das steinige Geröll den Berg hinaufarbeitete. Nur noch etwa hundert Höhenmeter trennten sie vom Kamm des ersten Berges. Von dort erhoffte sich Liya eine Aussicht über das Nordgebirge.
Liya drehte sich um und genoss einen letzten Blick über das Panorama der schier unendlichen Regenschattenwüste.
So weit das Auge reichte, leuchtender, unberührter Sand. Friedlich und schön und doch voller Gefahren, bevölkert von Gigamiten, Kratzkäfern und Feuerspuckern. Liya liebte und hasste die Wüste. Sie verfluchte jeden Schritt, den sie sich je durch die sandige Hölle hatte durchkämpfen müssen, und wusste doch, dass sie nicht lange ohne sie sein konnte. Die Wüste war über all die Jahre mit der Karawane so etwas wie Heimat für sie geworden. Und Liya wusste noch etwas: Eines Tages würde sie dort sterben, in der Wüste. Nur dort.
Liya wandte sich wieder dem Weg zu und dachte an ihre tote Mutter, die ihr bereits zweimal erschienen war. Die beiden Begegnungen waren real gewesen, keine Träume. Zu viele Vorahnungen hatten sich erfüllt, als dass Liya noch irgendeinen Zweifel hegte, dass alles genau so kommen würde. So, wie sie wusste, dass sie eines Tages in der Wüste sterben würde, so klar war ihr, dass sie die Warnungen ihrer Mutter ernst nehmen musste. Sie würde dem Sariel begegnen, vielleicht schon sehr bald. Besser also, sie passte auf!
Liya gab Biao ein Zeichen, anzuhalten, und horchte. Auch Biao wirkte auf einmal unruhig, als spüre er ebenfalls die drohende Gefahr. Aber es blieb still. Liya saß allein auf ihrem Kalmar am Eingang des Regenschattengebirges. Vor ihr erstreckte sich das gewaltigste Bergmassiv, das die Erde je hervorgebracht hatte. Sie kam sich vor wie ein Staubkorn, das durch ein unendliches Nichts trudelt, von niemandem wahrgenommen, von aller Welt vergessen. Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie sich einsamer gefühlt als in diesem Augenblick.
Liya stieg ab und stellte sich neben Biao. Das Gefühl war nun sehr deutlich. Der Sariel war da! Irgendwo. Ganz in der Nähe. Sie spürte es nicht nur, sie wusste es in diesem Augenblick allergrößter Einsamkeit und Leere. Ihr Herz pochte, ihr Atem ging schwer, Kälte schauerte ihr über den Rücken, trotz der Mittagshitze. Die Erkenntnis an sich überraschte sie nicht so sehr wie die Abwesenheit von Angst. Sie fürchtete sich nicht vor dem Sariel, es war eher so ein Gefühl wie ...
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