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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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und legte sie aufs Bett. Er deckte sie zu, setzte sich zu ihr und hielt mit gesenktem Kopf ihre Hand. Arnie nahm Cantrell unbemerkt die Pistole aus dem Halfter, bevor wir ihn mit seiner Trauer allein ließen.
    Theresa hatte den Rückweg in stoischem Schweigen hinter sich gebracht. Doch als wir endlich im Aufenthaltsraum des Blockhauses waren, Earl und Lenore aus ihrem Zimmer geholt und ihnen erzählt hatten, was passiert war, hielt sie es nicht mehr aus: »Jetzt warten wir also auf den Tod, oder? Wir alle? Wir haben unser Bestes getan, doch er ist uns wieder mal zuvorgekommen. Und daran wird sich auch nichts ändern.«
    »Theresa«, sagte Nelson und ging auf sie zu. »Jetzt ist es genug.«
    Sie schlug mit ihrem fleischigen Arm nach ihm und erwischte ihn quer über dem Kiefer. »Es ist nicht genug. Nicht für ihn! Er kommt einfach hier reinspaziert und tötet Butch; wir alle legen auf ihn an, aber keiner trifft ihn. Wir stellen ihm eine Falle, und er weiß im Voraus, was wir vorhaben. Er ist in uns drin mit seinem indianischen Hokuspokus. Ich kann ihn spüren!«
    Sie zeigte auf mich. »Ich hab Recht, stimmt’s? Er verfügt über Kräfte, die wir nicht begreifen können. Sie haben es selbst gesagt!«
    Ich nickte, wobei mich erneut diese schläfrige Schwere befiel. »Es stimmt.«
    »Dann werden wir alle sterben, bevor das Flugzeug kommt?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich, und so war es auch. Der letzte Zipfel Gewissheit, an den ich mich geklammert hatte, war mit Sheilas Tod verflogen. Ich sah die Welt jetzt mit anderen Augen und suchte verzweifelt nach einem Halt.
    »Drei Tage«, sagte Lenore voller Hoffnung. »So lange halten wir doch durch.«
    »Ach ja?«, fragte Theresa. »Wie denn?« Sie warf sich schluchzend aufs Sofa. Ich stand auf und ging an Griff und Kurant vorbei zur Tür. »Ich geh schlafen.«
    Draußen rumorte es in den Bäuchen der blau und stahlgrau gefärbten Wolken, und sie spuckten Flocken aus, so groß wie Taubeneier, als der Wind wieder nach Norden drehte und die Temperatur sank. Das Eis am Seeufer hatte sich in den vergangenen zwei Tagen stark verzogen und sich zu bedrohlichen blassen Blöcken aufgeworfen, die wie Grabsteine anmuteten. Ich trat hinaus auf den gefrorenen Friedhof, bewegte mich auf die schwarze Linie zu, hinter der das offene Wasser noch immer dem Vormarsch des Winters trotzte. Fünf Meter vom ebenholzschwarzen Spiegel des Wassers entfernt blieb ich stehen und sah hinein, sah, wie sich das Schneetreiben darin spiegelte, sah, wie es zu schonungslosen Erinnerungen mutierte: Ryan, der mir den Daturarauch in die Lunge blies, Cantrell, der seine tote Frau berührte und dabei verging, meine eigenen Finger, die die kühlen, feuchten Wangen meiner Mutter streichelten.
    Gegen dieses letzte Bild sträubte ich mich, denn ich hatte es tiefer in mir begraben als alle anderen. Jetzt drängte es mit aller Macht an die Oberfläche, es gab kein Entrinnen mehr. Hatte ich eine andere Wahl, als mich der Vergangenheit zu stellen? Wem sollte ich folgen, wenn nicht den flüchtigen Bildern in meinem Kopf, Bildern von mir selbst, meinen Kindern, meinem Mann, Mitchell, meinem Vater, Katherine? Ich glaube inzwischen, wie meine indianischen Vorfahren, dass unser Leben mehr ist als nur die Summe der Momente in der sichtbaren Welt; wir existieren in Schichten neu erstandener, neu erfundener Erinnerungen, die ihre Gestalt verändern und uns über unsichtbare Grenzen hinweg in vielerlei gedankliche Welten stoßen. Bis wir genügend Kraft in uns gesammelt haben, um uns mit Zuversicht dorthin zu wagen, sind wir verloren und allein, Wilde in einem dunklen Wald.
    Ich weiß nicht, wie meine Mutter starb. Bei der Vernehmung durch die Polizei gab mein Vater an, er habe an diesem Morgen in seinem Büro gesessen und Rechnungen geprüft; Katherine habe noch geschlafen. Später wollte er angeblich nach ihr sehen, da lag sie nicht mehr in ihrem Bett. Er hatte sie im ganzen Haus vergeblich gesucht. Erst als er bemerkte, dass ihre Angelrute nicht an ihrem Platz lag, war er hinunter zum Teich gelaufen.
    Ich schrieb unterdessen meine Chemie-Prüfung. Als ich nach Hause kam, war Katherines Leiche schon fast wieder trocken. Mein Vater hatte versucht, mich von ihr fern zu halten. Ich sah ihm in die Augen und entdeckte darin eine Welt, die mich bis ins Mark ängstigte. Er war mir fremd geworden. Ich schob ihn beiseite, ging zum Ufer des Teichs und kniete mich neben meine Mutter. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen; der rosige

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