Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
Vom Netzwerk:
war. Alles, was das Tier ausmachte, lebt in diesem letzten Atemzug.«
    Wie in Trance nahm ich die Haarlocke und warf sie in den Wind. Dann betete ich, nicht zu irgendeinem Mann mit weißem Bart – das erschien mir lächerlich –, sondern zu diesem Fluss in mir. Ich ging nach vorn, am Geweih vorbei, und schloss beide Hände um das Hirschmaul. Seine Atemluft roch modrig nach frisch gepflügter Frühlingserde. Ich hielt sie fest, bis mir Sternchen vor die Augen traten und ich im Geiste alle Geräusche des Waldes hörte.
    Ich lebte jahrelang in diesem Wald und fühlte mich darin geborgen. Dann kam die Tragödie und ich ging fort. Und das Einzige, was mir je wieder dieses Gefühl von Geborgenheit vermitteln konnte, waren die Arme meines Mannes und die leisen Schlafgeräusche meiner Kinder.
     
    Ich ging ins Schlafzimmer und nahm ihr Foto in die Hand. Es war das neue aus der Schule. Kevin hatte es mir geschickt, seine einzige freundliche Geste in letzter Zeit. Patrick musste zum Friseur, aber sein Lächeln war wie eine kleine Umarmung. Emily? Sie erinnerte mich an meine Mutter, eigensinnig und doch warmherzig.
    Ich habe ihnen das Leben geschenkt, dachte ich. Und es war, wie mein Vater es vorhergesagt hatte: Ich hatte vor Schmerz und Freude geweint, als sie blutig und warm aus meinem Körper geschlüpft waren.
    Und doch war ich jetzt hier; ein Gerichtsbeschluss und viele tausend Meilen lagen zwischen meinen Kindern und mir. Und morgen würde ich ein wildes Tier durch den Wald hetzen.
    Was war ich nur für eine Frau?

Siebzehnter November
    Als wir noch vor Morgengrauen aufbrachen, bogen sich die Äste der Nadelbäume entlang des Wegs unter ihrer Schneelast. So entstand im Scheinwerferlicht der Pistenraupe die Illusion eines Tunnels, still, schmal, weiß. Der böige Wind hatte den Schnee vor uns zu körperlosen Wellen aufgeworfen. Das Getöse des Dieselmotors füllte den gesamten Raum um mich herum. Patterson hatte Mühe, den Motorschlitten in der Spur zu halten. Ich stützte mich am Armaturenbrett ab, das Gewehr zwischen die Knie geklemmt. Die Sorge der letzten Nacht war der Vorfreude gewichen, endlich wieder in die freie Wildnis hinauszukönnen.
    Das Frühstück war ruhig verlaufen. Auf Lenores Aufforderung hin hatte Earl sich brummend bei mir entschuldigt, er sei wohl etwas »abgestürzt«. Um des lieben Friedens willen spielte ich die zurückhaltende Squaw und lenkte ein. Es sei ihm zu wünschen, sagte ich, dass er heute seinen kapitalen Hirsch schieße.
    Ich hatte das Frühstück hinuntergewürgt und meine Ausrüstung aus der Hütte geholt. Griff kam im weißen Tarnanzug zum Truck. Ein Köcher mit sechs Pfeilen hing ihm von der Hüfte. Er trug einen Recurvebogen. Gemeinsam warteten wir auf Patterson.
    »Sind Sie bereit?«, flüsterte er. Ich weiß nicht, warum man unwillkürlich flüstert, wenn man auf die Jagd geht: wahrscheinlich die instinktive Ehrfurcht vor dem Ernst des Vorhabens.
    »So bereit, wie man nur sein kann«, sagte ich.
    »Höre ich da ein Zweifeln?«, sagte Griff. Aus der Nähe wirkte seine Größe stattlich, aber nicht bedrohlich.
    »Liegt das nicht in der Natur der Sache?«
    »Schon möglich«, sagte er nachdenklich. Nach kurzem Zögern erzählte er: »Ich habe vor einigen Jahren meine Frau verloren, müssen Sie wissen. Als Ihr Vater davon erfuhr, rief er mich an. Er war mir eine große Stütze, denn schließlich war er selbst Witwer.«
    Ich brauchte meine ganze Kraft, um nicht die Fassung zu verlieren. Da kam Patterson über den Hof, und ich sagte kühl: »Schön, dass er Ihnen behilflich sein konnte. Ich habe ihn kaum noch gesehen in den letzten Jahren.«
    Ich ging um den Motorschlitten herum und kletterte in die Kabine. Etliche Kilometer fuhren wir schweigend, bis Patterson neben einer Markierung aus grellgelbem Klebeband anhielt, die den Weg zu einem Winterroggenfeld und einem Hochsitz wies, und Griff absetzte.
    »Seien Sie vorsichtig, Little Crow«, flüsterte Griff mir zu. »Der Wald kann erbarmungslos sein.« Er sah mir dabei direkt in die Augen, und ich nickte, ich war wachsam geworden.
    Griff war mittlerweile mindestens viereinhalb Kilometer hinter uns, saß wahrscheinlich schon auf seinem Baum.
    In Pattersons Bart hing Schnee. Um den Motorenlärm zu übertönen, schrie er: »Etwa acht Kilometer nördlich von der Stelle, wo ich Sie absetze, treffen sich der Sticks und der Dream. Am Dream entlang, hinauf in nördlicher Richtung, wechseln sich Niederungen und Hügelkämme ab. So was mögen die

Weitere Kostenlose Bücher