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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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Flussufer, Griff hundert Meter weiter westlich und ich weitere hundert Meter weiter.
    Wir bewegten uns durch dasselbe Gelände nach Norden, das ich am Vortag, also vor einer halben Ewigkeit, durchstreift hatte. Wir kommunizierten mit Handzeichen, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Erst jetzt merkte ich den Schnee. Er schob sich die Hosenbeine hinauf und in die Stiefel, rieselte mir von oben in den Nacken, rutschte mir wie eine Nacktschnecke den Rücken hinunter und fuhr mir beißend ins Gesicht.
    Viele Minuten lang nahm ich nur noch den Schnee wahr und den Schweiß und die Notwendigkeit, den Waldboden nach frischen Spuren abzusuchen. Immer wieder sah ich über die Schulter nach hinten oder duckte mich, um durch das Dickicht aus Fichten und Lärchen nach vorne zu spähen, in der Hoffnung, eine Bewegung zu entdecken – von Mensch, Wolf oder ich weiß nicht was.
    So ging es eine halbe Stunde, in der ich mich völlig dem Rhythmus überließ, Stümpfen auszuweichen und über liegende Stämme zu steigen. Die Luft im Wald war seltsam aufgeladen nach dem gestrigen und vor dem kommenden Schneegestöber. Trotzdem drang bis auf das Schwirren der Meisen, die heiseren Schreie der Eichelhäher und das Schnauben aufgescheuchter Hirsche kaum ein Laut an mein Ohr. Ein unsinniges Glücksgefühl überkam mich, vermutlich, weil ich etwas tat, das ich beherrschte. Mein Vater hätte wohl eine andere Erklärung dafür gehabt: Er sagte immer, dass man bei jeder Jagd Augenblicke erlebe, in denen die Sinne so geschärft waren, dass die Zeit stillzustehen schien und der Wald seine Geheimnisse preisgab.
    Mein Vater und Mitchell betrachteten die Hirschjagd als einen schöpferischen Akt, der den kontinuierlichen Wechsel zwischen Leben und Tod widerspiegelte. Die Micmac-Geschichten, die ich über die Jahre gehört hatte, spielten immer tief im Wald, weil der Mensch hier der Großen Kraft am nächsten war. Die Micmac-Indianer früher jagten Elche. Für Mitchell und meinen Vater jedoch waren Weißwedelhirsche eine weitaus größere Manifestation der Großen Kraft. Indem der Jäger lernte, eins zu werden mit dem Hirsch, den er verfolgte, lernte er auch, sich angesichts der Großen Kraft richtig zu verhalten.
    »Du musst der Versuchung widerstehen, im Wald ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen, Little Crow«, sagte Mitchell. »Ein Ziel zu haben bedeutet, sich den Wald aneignen zu wollen, was unsinnig ist. Der Wald ist der Wald. Versuche stattdessen, einfach nur da zu sein, dann akzeptiert dich der Wald. Wenn dir das gelingt, dann wirst du zum Spiegel, der alles reflektiert, was um dich herum vorgeht. Du wirst Welten wahrnehmen, die für die meisten Menschen heutzutage unsichtbar sind.«
    Ich fragte mich gerade, ob es mir gelingen würde, einfach nur »hier zu sein«, als ich wieder dieses Gefühl hatte, dass man mich belauerte. Hinter dem Stamm einer großen Gelbkiefer hob ich den Feldstecher an die Augen und suchte den Hang seitlich ab. Ich tastete nach meinem Gewehr, suchte mit dem Daumen die Sicherung.
    Nachdem ich den Hang mehrmals abgesucht hatte, wahrscheinlich viel zu hastig, um etwas zu sehen, ließ ich den Feldstecher auf die Brust fallen und schloss die Augen. Vielleicht gelang es mir, gleichsam durch innere Sammlung, die Schwingung des Beobachters zu erspüren. Es dauerte nicht lange, da meldete sich ein dumpfes, nicht unangenehmes Pulsieren im Nacken, das sich langsam nach vorn, an meine Schläfe verlagerte. Vor meinem inneren Auge sah ich deutlich den Abhang zu meiner Linken. Ich schlug die Augen auf und richtete das Fernglas in die entsprechende Richtung, auf eine Gruppe Pappeln im Hang.
    »Unglaublich«, sagte ich zu mir selbst. »Absolut unglaublich.«
    Zwei gewaltige Hirsche, die Körper so tonnenförmig und schwer, dass ihre Beine wie verkümmert wirkten. Ihre Hälse waren eins mit den Schultern, geschwollen bis hinauf zu den Ohren. Regungslos standen sie im Hang. Die Atemluft kam in Wölkchen aus ihren Nüstern und zerfiel wie Nebel zwischen den Verästelungen ihrer mächtigen Geweihstangen.
    Das Gewehr glitt wie von selbst aus der Halterung; ich zielte auf das Blatt des größeren Tiers, mit den unzähligen Geweihenden, das eben zwei weite Sätze hügelaufwärts gemacht hatte, bevor es wieder zur Statue erstarrte. Ich richtete das Fadenkreuz aus und wollte schon abdrücken, als mir ein hässlicher Gedanke durch den Sinn fuhr: Die Tiere waren gar nicht die Quelle meines Unbehagens.
    Da überkam mich eine Angst, wie ich sie noch

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