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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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liefere dich Tatewari gleich jetzt aus.«
    Plötzlich sah ich alles auf einmal – ihr Foto, den Altar, die Skalps, die Höhlenwände, mein Gewehr auf dem Boden, meine Hände in den Fäustlingen –, ganz so, als würde ich durch das falsche Ende eines Fernglases blicken; die Welt erschien mir in weite Ferne gerückt. Zitternd drehte ich mich um und sah die straff gespannte Sehne eines Langbogens und einen Zedernpfeil, der auf meine Brust zielte. Kurz hatte ich den Eindruck, als spanne ein hellgrauer Wolf den Bogen: Er hatte das Tierfell sorgfältig zugeschnitten und so vernäht, dass es seinen Kopf bis zur Nase umschloss wie eine zweite Haut. Die Enden hingen ihm um die Schultern, vermengten sich mit seinem silberdurchwobenen Bart und gingen dann in einen Tarnanzug aus weißem Fleece über. Ich hatte plötzlich die entsetzliche Erkenntnis, dass dies der letzte Anblick war, den Pawlett, Grover, Patterson und der Eigentümer des vierten Skalps vor Augen gehabt hatten, bevor sie starben.
    Er trat beiseite, bedeutete mir, in die Haupthöhle zurückzugehen, und bereits in dieser einfachen Geste zeigte sich die außerordentliche Kraft, die er offenbar besaß. Als Kind hatte Mitchell mir Geschichten von den so genannten
Kinapaq
erzählt. Anders als die
Puoin
manipulierten die
Kinapaq
die Große Kraft für ihre eigenen Belange. In den Micmac-Mythen konnten die
Kinapaq
rennen wie der Wind, riesige Felsbrocken über Flüsse schleudern und stundenlang unter Wasser bleiben. Ich hatte insgeheim darüber gelacht; und obwohl ich zuweilen Unerklärliches erlebt hatte und Mitchell und mein Vater dies der Großen Kraft zuschrieben, wollte ich tief im Herzen nie so recht daran glauben. Die Große Kraft und die sechs Welten gehörten für mich ins Reich der Mythen, waren Legenden, die der indianischen Lebensweise Bedeutung und Geschichte verleihen sollten, aber eben nicht real waren.
    Jetzt war ich nicht mehr so sicher. Von ihm ging etwas aus, das ich noch nicht kannte; wenn ich jetzt versuchte zu kämpfen oder zu fliehen, würde er mich auf der Stelle töten, das wusste ich.
    »Auf die Knie!«, befahl er mir, als ich die Mitte der Höhle erreicht hatte. »Hände hinter den Rücken.«
    Ich schluckte, gehorchte aber.
    Er trat hinter mich. Das Holz seines Bogens knarzte. Die Pfeilspitze berührte mich im Nacken, und um ein Haar hätte ich aufgeschrien. Da packte er mit einer Hand meine Handgelenke und band sie rasch mit breiten Lederstreifen zusammen. Als Knebel steckte er mir ein rotes Taschentuch in den Mund.
    Er stieß mich bäuchlings auf die Hirschfelle, riss mir die Wathose herunter, fesselte meine Knöchel und setzte mich dann mit dem Rücken gegen die Höhlenwand. Er warf mir eine gegerbte Hirschhaut über die Beine, drehte sich wortlos um und verschwand im Altarraum. Gleich darauf kam er mit meinem Gewehr und einem der gelben Pfeile wieder zurück.
    »Kauyumari hat mir verraten, dass du kommen würdest«, sagte er wieder, wobei er das Gewehr entlud. »Er sagte, du wärst die Einzige, die den Wald wirklich kennt. Also habe ich heute Morgen die Insel verlassen, um dich herzulocken.«
    Bloß nicht jammern oder strampeln, dachte ich. Lass ihn reden. Er soll sich zu erkennen geben. Lern den Hirsch kennen, pflegte mein Vater zu sagen.
    Er zog den Bolzen zurück, um die Patrone aus der Kammer zu holen. Dann ging er vor mir in die Knie und überprüfte meine Fußfesseln. »Versuch gar nicht erst zu fliehen«, sagte er. »Ich bin dir voraus, wohin du auch willst.«
    Ich nickte, denn irgendwie ahnte ich, dass er die Wahrheit sagte. Er kroch mit meinem Gewehr nach draußen.
    Bis zu diesem Moment war ich verhältnismäßig ruhig geblieben, hatte mich seltsam unbeteiligt gefühlt, als würde ich das Geschehen von außen betrachten. Jetzt aber, im dämmrigen Käfig der Höhle, wurde mir meine Lage so richtig bewusst, und ich begann zu zittern. Ich nahm jedes Gramm meiner Willenskraft zusammen, um dem Zittern Einhalt zu gebieten. Er wusste, dass ich Angst hatte, aber er sollte es nicht sehen. Bis jetzt hatte er mir nichts getan, doch ich fürchtete, dass er mich beim geringsten Anzeichen physischer Schwäche angreifen würde, wie ein Wolf ein verwundetes Waldtier. Ich musste ihm zeigen, dass ich stark war.
    Minutenlang atmete ich tief und kontrolliert, um die Zuckungen einzudämmen; sie verschwanden auch, wichen aber einem tief greifenden Gefühl der Erschöpfung, als das Adrenalin meinen Kreislauf verließ. Ich wehrte mich matt gegen die

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