Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
Vom Netzwerk:
Fesseln. Wer war er? Der alte Metcalfe oder sein Sohn Ronny? Beides war möglich. Er schien alterslos. Da fiel mir ein, dass ich weder den einen noch den anderen je zu Gesicht bekommen hatte; im Blockhaus gab es weder Fotos noch Bilder von den Metcalfes. Eigenartig, dass mir das nicht längst aufgefallen war. Waren die Fotos der Metcalfes absichtlich abgehängt worden? Wer war dieser Kauyumari, der mein Kommen angeblich vorausgesagt hatte? Was hatten die Fotos zu bedeuten, die ich in seiner Tasche gefunden hatte – von dem Mann auf der Klippe und dem Lehmziegelhaus? Wem hatte der vierte Skalp gehört? Warum hatte ich sein Kommen nicht gespürt, wie im Wald? Meine Gedanken drehten und drehten sich, während ich Theorien aufstellte und wieder verwarf, bis alles ein heilloses Durcheinander und ich entsetzlich müde war.
     
    Ich musste eingenickt sein, denn als ich die Augen öffnete, saß er mit gekreuzten Beinen auf einem der Hirschfelle, etwa zwei Meter von mir entfernt, und beobachtete mich. Vor ihm lagen über Kreuz zwei gelbe Pfeile, daneben eine Kürbisflasche mit Wasser und neben dieser das Wolfsfell, das er abgenommen hatte, um ein Gewirr stahlgrauer Haare zu entblößen. Er musste einmal ein bemerkenswert schöner Mann gewesen sein, doch von dieser Schönheit war nichts geblieben als ein ausgezehrtes, knochiges Gesicht oberhalb der Bartlinie und schmale, fast blaue Lippen. Ich konnte seine Augen jetzt deutlich sehen – sie waren weidengrün, die schwarzen Pupillen stark erweitert, das Weiße trüb und blutunterlaufen. Es waren die gequältesten Augen, die ich je gesehen hatte.
    Er streckte die Hand nach mir aus, nahm mir den Knebel aus dem Mund und setzte sich wieder zurück.
    Wir musterten einander etliche Minuten. Mein Herz fing wieder an zu stolpern. Es war, als hätte er tatsächlich die Fähigkeit, in mich hineinzusehen und meine Gedanken zu lesen. Ich wandte mich ab, weil mir schlecht wurde bei dem Gefühl, doch es ließ mich nicht los.
    Schließlich platzte ich heraus: »Sind Sie Ronny Metcalfe?«
    Er sagte nichts.
    »Na gut, dann sagen Sie mir wenigstens, was das alles soll.«
    Sein Körper erstarrte, was vermuten ließ, dass etwas Unergründliches unter der ruhigen Oberfläche brodelte. Kurz fürchtete ich, es könne überkochen und mich fortspülen. Stattdessen wurden seine Augen noch glasiger und schwermütiger, und er sagte mit belegter Stimme: »Ich habe den Medizinbeutel um deinen Hals gesehen. Du hast indianisches Blut, stimmt’s?«
    »Micmac und Penobscot«, antwortete ich.
    »Nördliches Waldland, Algonquin.« Er nickte. »Wie heißt du?«
    »Diana«, antwortete ich. »Diana Jackman.«
    »Nein, dein indianischer Name.«
    Ich zögerte. »Little Crow.«
    Er schien zufrieden gestellt. »Ich hab dich im Wald beobachtet, Little Crow. Du bist eine gute Jägerin. Du hast Achtung vor der Natur. Das ist selten. Und doch liegt auf dir ein Schatten, ein Gefühl der Trauer, dem du dich nicht stellen willst.«
    Ich zuckte zusammen. »Ich … ich bin nur zum Jagen hergekommen.«
    Er lachte, doch es war keine Freude darin. »Ich sehe, was andere nicht sehen. Offenbar sind wir seelenverwandt.«
    Ohne es zu wollen, fuhr ich ihn an: »Wir haben nichts gemein. Mir macht es keinen Spaß, Menschen zu töten.«
    »Spaß!«, brüllte er. »Das ist kein Spaß! Ich bin hier, um die Jagd von dem Dreck zu befreien, um den Eiter fortzuspülen, der die große Zeremonie besudelt. Ich werde das verlorene Gleichgewicht wiederherstellen!«
    Er war aufgesprungen, tobte vor Wut, trat gegen Töpfe und Teller. In der Hand hatte er ein hässlich aussehendes Messer mit schwarzer Steinklinge und Hirschhorngriff. Ich drückte mich gegen die Wand, um seiner Wut auszuweichen.
    »Es war Kauyumaris und Tatewaris Wunsch, dass ich hierher komme«, geiferte er. »Hier gibt es kein Opfer und kein Dankgebet für Bruder Hirsch. Hier herrscht nur die Gier nach Trophäen, und das alles … das alles wurde von
ihm
organisiert, von
ihm
, der die Jagd entweiht hat. Und seine bösen Taten werden von den Gesetzen der so genannten
Zivilisation
entschuldigt, weil sich Geld damit verdienen lässt!«
    Er raufte sich die Haare und bückte sich dann nach den beiden gelben Pfeilen. Er nahm einen in jede Hand und begann mit geschlossenen Augen und langsamen, gemessenen Schritten, um die Feuerstelle zu tänzeln. Allmählich legte sich seine rasende Wut.
    Mir liefen Tränen übers Gesicht. Ich konnte es nicht verhindern. Endlich blieb er vor mir stehen.

Weitere Kostenlose Bücher