Panik: Thriller (German Edition)
Sie schrie. Der Boden gab unter ihr nach, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie öffnete die Augen. Die Luft brannte, überall waren flackernde blaue und gelbe und rote Flammen. Sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren, und wieder war da die breite Straße. Doch dieses Mal war alles völlig real. Rilke war bei ihr. Vor Schreck stand ihr Mund offen, ihr Haar wehte um ihre Schultern. Die beiden standen Hand in Hand da. Der Wind schlug ihnen entgegen wie ein Schnellzug. Hunderte heller Funken wurden vom Sturm aufgewirbelt und in dieselbe Richtung gesaugt.
Daisy sah ihnen hinterher, beobachtete, wie sie auf den Mann im Sturm zuflogen. Er schwebte über dem Boden, als hätte man ihn gekreuzigt. Seine Augen funkelten wie schwarzes Licht, sein Gesicht war ein Strudel, der die dunklen Wolken verschlang. Er machte ein grässliches Geräusch, wie der letzte Seufzer eines Asthmakranken, das einfach nicht enden wollte. Um ihn herum brauste die Luft wie bei einem Tornado. Wie im Zauberer von Oz. Er ist ein Zauberer, dachte sie. Oder etwas noch viel Schlimmeres.
Ein Auto flog durch die Luft. Daisy konnte fünf Männer in seinem Inneren erkennen. Zwei waren tot, aufgespießt von einer Metallstange. Einer– der Mann, der auf dem mittleren Rücksitz saß– starrte sie an. Sie sah das Entsetzen in seinen großen Augen und den gebleckten Zähnen.
Tut mir leid, sagte sie. Ich kann dich nicht retten. Trotz des Durcheinanders begriff sie, dass das alles schon passiert war, obwohl sie jetzt, in diesem Moment, auf der Straße stand. Sie konnte das mächtige Seufzen der zerbrochenen Zeit fast hören.
Der Mann im Sturm schleuderte einen weiteren schwarzen Blitz, und wieder löste sich ein Teil der Welt auf. Das Auto explodierte in einer Million kleiner Teile, die Männer darin zerfielen zu Sand und trudelten dem Mund der Leiche entgegen.
Daisy schrie, doch auch ihr Atem wurde vom Wind mitgerissen. Die leblosen Augen des Mannes richteten sich auf sie. Es war, als würde man ihr in den Magen schlagen. Das Ding wusste, wer sie war. Der brüllende Sturm rief ihren Namen– nein, das war nicht ihr Name. Es war noch nicht einmal ein Wort. Der tote Mann bewegte die Finger, und Daisys Füße verließen den Erdboden. Sie hielt sich mit aller Kraft an Rilke fest, und beide Mädchen gerieten in den Sog des Strudels. Wenn sie nicht schnell verschwanden, jetzt sofort, würden sie in das Nichts eingesaugt werden.
Das schien selbst Rilke zu verstehen.
Daisy kniff die Augen zusammen. Plötzlich fiel sie wieder, und es fühlte sich so echt an, dass sie mit den Armen ruderte. Noch ein Blitz, weitere Flammen. Sie wurde nach hinten geschleudert, der Stuhl fiel um. Sie kroch auf dem kalten Boden herum, erwartete jeden Moment, vom Mann im Sturm eingesaugt zu werden. Doch um sie herum war nur das Restaurant und ein Funkenregen, der langsam zu Boden schwebte.
Daisy wartete, bis sich die Realität wirklich genug anfühlte, dann setzte sie sich auf. Rilke saß ihr gegenüber und hatte wieder dieses irre Grinsen im Gesicht. Sie sah Daisy an und fing an zu lachen.
» Ich hab’s dir doch gesagt. Alles ändert sich«, sagte sie.
Daisy rappelte sich auf, eilte taumelnd zur Tür. Eigentlich hätte sie das Essen mitnehmen müssen, aber sie wollte einfach nur von hier weg. Sie schob den Riegel zur Seite, riss die Tür auf und fiel in Cals Arme. Im warmen Licht des Foyers hielt er sie in den Armen und streichelte ihr Haar, während sie den Tränen freien Lauf ließ.
» Alles in Ordnung? Was ist passiert? Was hat sie mit dir gemacht?«
Daisy klammerte sich an ihn. Dann hörte sie Schritte hinter sich. Die Tür wurde geschlossen und der Riegel wieder vorgeschoben.
» Rilke, was hast du getan? Daisy, Daisy, sieh mich an.«
Sie legte den Kopf in den Nacken, und seine Finger fuhren über ihre Wange. Als er sie wegnahm, waren sie mit feinem rotem Sand bedeckt.
» Was ist das?«, fragte er, und jetzt hatte auch er Tränen in den Augen. » Sag’s mir.«
Daisy umarmte ihn noch einmal. Sein T-Shirt war rot von getrocknetem Blut. Das Blut stammte weder von ihr noch von Rilke. Es gehörte einem Mann, dessen Körper sich viele Meilen von hier in einer anderen Zeit an einem anderen Ort aufgelöst hatte und von einem Strudel verschlungen worden war. Er war real gewesen. Alles war real gewesen.
Genau wie der Mann im Sturm.
Cal
Fursville, 10 : 23 Uhr
Cal trug den schweren Topf voll Wasser durch die Küchentür, wobei er darauf achtete, nicht über Edward
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