Panik: Thriller (German Edition)
Stimme. » Die Menschen sind gut, Rilke. Die meisten sind nett. Ich will nicht, dass sich etwas ändert.«
Rilkes Lächeln verschwand und machte einem herzzerreißenden Ausdruck des Mitleids und der Anteilnahme Platz.
» Dafür ist es zu spät, Daisy. Tut mir leid, aber das ist die Wahrheit. Was mit der Welt geschieht… hat bereits begonnen.«
» Und was geschieht mit der Welt?«, fragte Daisy und schnappte nach Luft. Rilke packte ihre Hände noch fester und zog sie näher zu sich.
» Wir«, sagte sie. » Wir geschehen. Verstehst du nicht? Ist dir nicht klar, was wir zu tun haben? Wir sollen alles anders machen. Wir sollen hier aufräumen. Daisy, schau in deinen Kopf, dann wirst du sehen, dass das die Wahrheit ist.«
Daisy wollte nicht, nicht schon wieder. Was würde sie diesmal in den Eiswürfeln sehen? Etwas Schlimmes. Feuer.
» Daisy, bitte«, sagte Rilke. » Ohne dich schaffe ich das nicht. Ich brauche dich. Schiller braucht dich. Wir alle brauchen dich. Sieh selbst.«
Daisy warf einen Blick auf den Jungen in der Ecke. Er musste furchtbar hungrig und durstig sein. Wenn sie ihn nicht aufweckten, würde er sterben. Das war schrecklich. Sie musste ihm helfen. Fest umklammerte sie Rilkes Hände. Zum Glück war sie nicht allein. Sie schloss die Augen und ließ die Bilder an die Oberfläche treiben…
Als würde man mitten im Winter einen dicken Mantel ablegen, der sich mit Wasser und Eis vollgesogen hatte und mindestens eine Tonne wog. Sie wurde so leicht wie der Staub, der im Kerzenlicht tanzte. Schwerelos.
Selbst mit geschlossenen Augen konnte sie die anderen so deutlich sehen, als würden sie hier im Raum stehen. Obwohl sie über den ganzen Park verstreut waren– Adam und Chris und der Neue, Marcus, schliefen noch (sie träumten denselben Traum, einen Traum mit Schildkröten). Jade saß auf der Wildwasserbahn und dachte an einen Jungen, der versucht hatte, sie zu töten. Brick reparierte immer noch den Zaun und dachte nur an Rache. Cal stand vor der Restauranttür, hatte das Ohr dagegengepresst und versuchte herauszufinden, was dahinter vorging.
Und da waren noch viele andere, Jungen und Mädchen, die sie noch nicht kannte, die ihr aber irgendwie vertraut vorkamen. Sie waren überall, zwanzig oder mehr, und sie strömten in ihre Richtung. Ihr Anblick– nein, es war mehr als nur ein Anblick, es war eine Vision – war verwirrend und doch tröstlich. Sie gehörten zu ihrer Familie. Sie waren hier willkommen.
Das Gefühl von gestern war auch da, und das war ganz und gar nicht willkommen. Es beschmutzte alles, überzog die Welt mit der Farbe des Himmels vor einem Gewittersturm, und jetzt war sie den Tränen nahe, dabei war sie gerade noch so angenehm durch ihre Gedanken geschwebt. Sie wollte nur weg von diesem Ding, was auch immer es war. Verzweifelt bahnte sie sich einen Weg in ihren Körper zurück.
Hab keine Angst, hier kann uns nichts passieren. Rilkes Stimme schien von überall gleichzeitig zu kommen. Nur noch ein bisschen, Daisy. Damit wir es sehen können.
Weshalb wollte sie es sehen? Es war grauenvoll. Aber Rilke hatte recht, es konnte ihnen nichts tun. Obwohl sie eine Million Meilen entfernt an einer Million verschiedener Orte war, wusste sie genau, dass sie sich immer noch in einem Restaurant in einem verwilderten Vergnügungspark am Meer befand. Sie konzentrierte sich auf die dunkle Wolke, versuchte herauszufinden, was sie war und warum sie sich so grässlich anfühlte.
Ein Bild tauchte auf: eine breite Straße mit Äckern zu beiden Seiten, mehrere große schwarze Autos und Männer in Anzügen mit Pistolen. Einige Männer kreischten, andere deuteten auf…
Was war das?
Ein Mann, der in einem chaotischen Wirbelwind schwebte, und sein Mund… Daisy stöhnte auf. Das ist nicht echt, das ist nicht echt, wiederholte sie. Doch es war echt. Das war das Ding, das sie gestern Abend gespürt hatten, der Herr des Nichts. Sie wollte die Augen schließen, aber das Bild war ja in ihrem Kopf, die Geräusche drangen aus ihrem Innersten. Sie roch Blut und verbranntes Fleisch, sie schmeckte dicken, öligen Rauch auf der Zunge. Doch das alles war ihr egal. Der Mann im Sturm hatte sie völlig ausgehöhlt, bis nichts mehr von ihr übrig war. Noch nie zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt.
Ich will da weg, sagte sie und spürte Rilkes Hände über ihren eigenen. Bitte, Rilke, ich will …
Ein helles Licht, grell wie der Blitz eines altmodischen Fotoapparats, dann brannten lodernde Flammen auf ihrer Haut.
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