Panik: Thriller (German Edition)
einem mühsamen, stöhnenden Seufzen ging sie zum Bett hinüber, setzte sich auf die Kante der Matratze– genau an die Stelle, wo sie am Morgen gesessen war, vor einer Million, einer Milliarde Jahren.
Dann drehte sie sich zu ihnen um. Der Kopf ihrer Mum lag auf Dads Schulter. Sie hatte sie seit Jahren nicht so friedlich gesehen. Ihre Gesichter waren bis auf einen roten Fleck auf jeder Wange blass. Die Augen waren geschlossen. Sie sahen nicht echt aus, sondern wie Plastikmodelle, wie die Wachsfiguren, die sie bei Madam Tussaud’s gesehen hatte– täuschend echt und doch ganz offensichtlich nicht.
Sie musste der Wahrheit ins Auge sehen. Das hier waren ihre Eltern, ihre Mum und ihr Dad, die Menschen, die sie gezeugt und aufgezogen hatten, die sie jeden Tag ihres Lebens begleitet hatten, die sie gepflegt hatten, wenn sie krank war, gefüttert hatten, wenn sie hungrig war, getröstet hatten, wenn sie traurig war und…
Daisy spürte einen Schrei in ihrem Kopf, ihr Verstand schlingerte, als wäre die Realität selbst entgleist und würde nun in eine neue, furchterregende Richtung davonjagen. Jetzt wollte sie nicht mehr weinen, sie wusste gar nicht mehr, wie das ging. Sie betrachtete die Hand ihrer Mum, die in der ihres Dads lag. Beide waren so reglos wie eine Fotografie. Daneben lag ein weiteres Stück Papier. Es war in der Hälfte gefaltet, und ihr Name stand darauf. Daisy griff danach, hob es auf und öffnete es. Es war die Handschrift ihrer Mutter– hingekritzelt in großen, erschreckenden, wahnsinnigen Buchstaben, jeder Menge Buchstaben. Sie überflog die Zeilen und konnte sich keinen Reim darauf machen, als wären sie in einer fremden Sprache geschrieben. Nur der letzte Absatz war lesbar, die Buchstaben dort doppelt so groß wie der Rest.
Daisy, bitte vergib mir. Spürst du es nicht? Etwas kommt auf uns zu, mein Schatz, etwas Böses, und es hätte dafür gesorgt, dass wir dir wehtun. Ich hab es gespürt, es war in mir, hat mich angefleht, schreckliche Dinge mit meiner kleinen Daisy anzustellen, meiner süßen, wunderhübschen Tochter. Ich glaube nicht, dass es der Krebs ist. Nein, es ist NICHT der Krebs. Ich habe mich um deinen Vater gekümmert. Ich weiß nicht, ob er dir wirklich etwas angetan hätte, aber ich glaube schon. Das hätten wir beide. Bring dich in Sicherheit, sei stark. Daisy, wir lieben dich. Wir hatten keine andere Wahl. Sonst hätten wir dir wehgetan. Und das wollten wir nicht. Wir HÄTTEN dir wehgetan.
Das letzte » hätten« war so dick unterstrichen, dass der Stift das Papier durchstoßen hatte. Daisy las den Brief nicht noch einmal durch, sondern faltete ihn wieder sorgfältig zusammen und legte ihn aufs Bett. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er bis zum Bersten mit Watte und Packmaterial gefüllt, sodass die Gedanken weder hinein- noch hinauskonnten. Sie stand auf, musste diesen Raum mit seinem kränklichen orangefarbenen Licht und diesem alles durchdringenden Todesgestank verlassen. Ruhig ging sie in die Küche hinunter, nahm das schnurlose Telefon aus der Ladestation und rief den Notruf an. Nach dem dritten Klingeln hob jemand ab.
» Um welche Art von Notruf handelt es sich?«, fragte eine Frau.
» Einen Krankenwagen bitte«, sagte Daisy, als würde sie eine Pizza bestellen. » Meine Eltern sind tot. Meine Mum hat sich umgebracht. Und vorher meinen Dad.«
» Ach du liebe Güte«, sagte die Frau nach einer kurzen Pause, was Daisy ziemlich dämlich fand. » Bleib bitte dran.« Ein Klicken ertönte, dann meldete sich ein Mann. Sie beantwortete ohne Nachzudenken seine Fragen und starrte dabei in den Garten, ohne die Blumen oder das Gras oder den Himmel oder überhaupt irgendetwas zu sehen.
» Der Krankenwagen wird gleich da sein, okay?«, sagte der Mann. » Ich bleibe solange in der Leitung. Nur ein paar Minuten, sie sind gleich bei dir.«
Cal
Oakminster, 16 : 00 Uhr
Cal saß im Wohnzimmer und wartete, dass er selbst im Fernsehen erschien, wartete auf sein schreiendes Gesicht, als er vor der Meute davonlief. Wie immer zu dieser Zeit hatte er das Haus für sich. Sein Vater, ein Geschäftsmann, der jedoch nie über seine Geschäfte redete, war im Ausland. Seine Mutter half von Dienstag bis Freitag immer nachmittags ehrenamtlich im Sozialkaufhaus um die Ecke aus. Er war froh, dass sie nicht hier waren. Er hätte gerne mit ihnen geredet, hätte gerne von ihnen gehört, dass alles in Ordnung war, aber inzwischen war er sich unsicher, was passieren würde, wenn sie ihn sahen. Vielleicht
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