Panik: Thriller (German Edition)
untergegangen, sodass der Sand wie feuchter Zement aussah. Sie machte ein paar schnellere Schritte, bis sie wieder an Cals Seite war.
» Von hier?«
Er ist aus Larkman, dachte Daisy beiläufig. Was komisch war, weil sie noch nie von Larkman gehört hatte.
» Norwich«, grunzte Brick, ohne sich umzudrehen.
Oh, dachte Daisy.
» Aus einem Kaff namens Larkman, wenn ihr’s genau wissen wollt«, fuhr er fort. » Aber davon habt ihr bestimmt noch nie gehört.«
» Cool«, sagte Cal und lächelte Daisy an. Sie lächelte unwillkürlich zurück. Cal war nett. Sie vertraute ihm. Sie würde ihm vertrauen, auch wenn er ihr nicht das Leben gerettet hätte. Er war nicht aus Norwich, er war aus Oak Minster oder so. Dabei dachte sie an eine Kirche ganz aus Eichenholz. Dieses Bild trieb durch ihr Gehirn wie ein Eiswürfel durch ein Wasserglas, durchsichtig und fast unsichtbar, aber trotzdem vorhanden. Ihr Kopf fühlte sich angenehm kühl an.
» Alles klar?«, fragte Cal. » Soll ich dir die Taschen abnehmen?«
» Geht schon«, sagte sie. Sie kam sich ja jetzt schon wie ein kleines Kind vor. Jetzt, wo ihre Eltern nicht mehr da waren– aber nicht tot, vergiss nicht, Cal hat gesagt, er kann alles wiedergutmachen –, musste sie sich wohl oder übel um sich selbst kümmern. Das konnte sie von den Jungs nicht erwarten, weil Jungs ja generell ein bisschen doof waren. Sie betrachtete Bricks Rücken. Selbst im Dunkeln schien das Haar des großen Jungen orange zu leuchten. Er hasst es, dachte sie. Nicht wegen der Farbe oder weil ihn die Leute deswegen auslachen, sondern weil es ihn an seinen Dad erinnert. Ihr Kopf war voller Eiswürfel, jeder war verschieden, und jeder teilte ihr klirrend eine andere Information mit.
» Wer hat dich angegriffen, hast du gesagt?«, fragte Cal. » Deine Freundin?«
Brick warf einen Blick über die Schulter, der einfach zu deuten war: Das geht dich nichts an. Doch dann wurden seine Augen weicher. Er bückte sich nach einem der kleinen Steine, die auf dem Strand herumlagen, und warf ihn ins Meer. Ziemlich weit. Der Stein tat Daisy leid. Nun musste er wieder eine Ewigkeit im kalten, dunklen Wasser liegen. Vielleicht für immer.
» So hat’s angefangen, ja«, sagte er im Gehen. » Wir haben rumgemacht, dann ist sie ausgeflippt. Sie hat mich gebissen.« Er drehte sich um und deutete auf die schmutzige, hässliche Wunde über seinem Auge. » Aber das war noch nicht alles. Sie war auf einmal der totale Psycho, wollte mich in Stücke reißen. Ohne Grund. Ich hab ihr nichts getan. Ich bin zur Tankstelle gefahren, um Hilfe zu holen, und dann war die ganze Meute hinter mir her. Sie wollten mich umbringen.«
Das ist nicht alles, dachte Daisy. Ein weiterer Eiswürfel trieb vorbei, sie sah einen dunklen Flur und eine verschlossene Tür am Ende einer Treppe. Dabei hatte sie ein ungutes Gefühl, etwas kitzelte unsanft ihren Magen, und sie konzentrierte sich auf die Möwen, die auf dem Wasser trieben. Die Vögel glotzten zurück, und ihre kleinen Augen erinnerten sie an die Menschen, die sie angegriffen hatten– an den Sanitäter und Mrs. Baird und die Nachbarn und die anderen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Augen waren völlig leer. Leere schwarze Murmeln.
» Hast du die Cops gerufen oder so?«, fragte Cal.
Brick schüttelte den Kopf. » Die wären doch auch auf mich losgegangen. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß es eben.« Er sah Cal an. » Und du weißt es auch.«
Und Daisy wusste es auch. Alle würden auf sie losgehen, egal wohin sie fuhren oder was sie taten. Sie mussten das irgendwie in Ordnung bringen, und bis dahin hatte diese Wut die ganze Welt erfasste. Das war kein Gedanke aus einem Eiswürfel, das war eine große Warnleuchte in ihrem Gehirn, unmöglich zu ignorieren oder abzustellen.
» Diese Wut«, sagte Brick und nickte, als hätte Daisy es laut ausgesprochen. » Aber warum? Warum wir?«
Die einzige Antwort war das Rauschen des Meeres, das mit seiner schaumigen Zunge über den Strand glitt, und das leise Kreischen der Möwen, die sich auf die Nacht vorbereiteten. Ob sie auf dem Wasser schliefen? Wie schafften sie es, dass sie in der Nacht nicht umkippten?
Ein paar Minuten lang gingen sie schweigend weiter. Daisy fiel immer weiter zurück. Der weiche Boden war Gift für ihre Beine. Sie versuchte, in die anderen Eiswürfel zu gucken. Sie sah ein hübsches Mädchen, das ein Buch las. Das war einer von Cals Gedanken. Dann ein Pier mit Spielautomaten, das konnte sie
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