Papa ante Palma
ersten Schritt. Auf einmal spüre ich so etwas wie einen Magnetismus zwischen den Schuhsohlen und dem Fußboden. Eigenartig, der ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Meine Füße scheinen festgeklebt, genauso wie damals bei dem Anthrax-Konzert, als ich eine geschlagene Stunde in einer angetrockneten Bierlache seitlich von der Bühne stand, ohne es zu bemerken. Mit einem Ruck löse ich mich und gehe extrem schnell auf Prude zu. Je schneller ich laufe, desto weniger können die Bremskräfte wirken, rede ich mir ein.
»Prudencia!«
Noch hat sie mich nicht entdeckt. Noch könnte ich einfach hinter einem der Zeitungsständer abtauchen oder in den Coffee-to-go-Shop abbiegen. Könnte behaupten, ich hätte mich mit den Ankunftszeiten vertan, sei ganz durcheinandergekommen wegen der Kinder und dem vielen Komponieren. Doch just in diesem Moment trifft mich ihr medusenhafter Blick so unvermittelt und wuchtig, dass mir die Dropstüte aus der Hand fällt. Da ist sie wieder, diese Lähmung. Meine Schritte verlangsamen sich verdächtig in Richtung Moonwalk. Ich muss aufpassen, dass ich nicht noch langsamer werde, sonst gehe ich bald rückwärts.
Prude wendet sich in meine Richtung. Auch sie läuft noch immer sehr langsam. Vermutlich weil in den Koffern an die zweihundert Tafeln Schokolade und jede Menge selbstgestrickte Pullover schlummern, des vergangenen harten Winters wegen.
Konzentrier dich. Sei gefälligst herzlich, brich den Bann. Die Liebe siegt, es wird schon gehen.
Mechanisch breite ich die Arme aus, als zöge jemand an durchsichtigen Tauen, und setze ein Ben-Affleck-Lächeln auf.
»Hola«, sagt Prude, ohne die Lippen zu bewegen.
Allerliebste Prudencia, wir freuen uns so sehr, dass du gekommen bist, und hoffen, dass es dir in unserem neuen Heim, das wir mit Liebe und Sorgfalt ausgewählt haben, auch gefällt. Herzlich willkommen auf der Insel des Lichts, der Freude und des Erbarmens. Lass dich umarmen. Das zumindest ist der Text, den ich mir auf der Autofahrt zurechtgelegt habe. Stattdessen bringe ich jedoch nur ein ebenso bauchrednerhaftes » Hola , Prude« heraus. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Betonbacke, die nach ABC -Pflaster riecht, nehme die Koffer und verlasse mit ihr die Halle. Ohne Drops.
Während der Autofahrt schweigen wir. Das war abzusehen.
»In Palma haben wir eine großartige Kathedrale«, sage ich auf Spanisch in die Stille.
Prude blickt aus dem Fenster auf ein paar kaputte Windmühlen, die an der Autobahn stehen. »Du weißt schon, wo ich herkomme?«
»Ja, aus León, wieso?«
»Dann weißt du sicher auch, dass wir die schönste aller Kathedralen haben«, sagt Prude in Richtung Scheibe.
»War ja nur ein Vorschlag.«
Schwiegermütter! Wer hat die eigentlich erfunden? Letztlich sind sie nur ein finsterer Ausblick auf das, was einen in ein paar Dekaden bei der eigenen Frau erwartet. Mehr nicht. Seitdem ich Prude kenne, bin ich deswegen ein glühender Verfechter der These, dass bestimmte Eigenschaften nicht zwangsläufig genetisch weitergegeben werden müssen. Dass sie vielmehr bei einem gesunden sozialen Umfeld herauswachsen können. Alles andere wäre mein Sargnagel aus Titan.
Eigentlich habe ich mit den vielen mallorquinischen Schleichern auf der Autobahn genug zu tun. Mir kommt es so vor, als würden die Leute hier langsamer fahren als in den engen Dorfsträßchen. Geradezu lebensgefährlich ist das.
Dann sehe ich nochmals zu Prude herüber, deren Blick nun über die Felder und Wiesen schweift. Mir fällt auf, dass ihre Körperhaltung sich verändert hat. Saß sie vorhin noch wie ausgestopft da und klammerte sich an ihrer Handtasche fest, so scheint nun die Anspannung gewichen zu sein, als würde sie die ergonomischen Vorgaben eines Autositzes letztlich akzeptieren. Auch die Gesichtszüge wirken irgendwie aufgeweicht und voller Melancholie, als hätte sie im Vorbeifahren einen alten Freund wiedererkannt. Jetzt bloß diesen Moment nicht stören, er könnte sich positiv auf die nächsten Tage auswirken, denke ich, setze den Blinker links und drücke aufs Gaspedal.
In Alaró bringe ich erst Prude nach Hause und hole dann die Kinder vom Hort ab. Sophie freut sich sehr über die Ankunft ihrer Oma und fällt ihr spontan um den Hals. Gegen diesen unverfälschten Impuls ist selbst Prude machtlos. Eine weitere Last scheint von ihr zu fallen. Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, lächelt sie. Luna dagegen hält erst mal Abstand. Dann verteilt Prude die mitgebrachten Geschenke. Kleider, allesamt
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