Papa ante Palma
die Windeln gemacht hatten, wurden sie wortlos zurück auf ihre Zimmer
geschoben. Die ganze Zeit über gab keiner der Alten auch nur einen Ton von sich,
bis auf einen Mann, den wir alle den »Spanier« nannten, obwohl er nach Aussage
seiner Angehörigen nie in Spanien gewesen war. Er war achtundsiebzig Jahre alt,
kam aus Meppen und hatte einen Schlaganfall erlitten. Seitdem war sein
Sprachzentrum geschädigt, und er brachte nur noch ein einziges Wort heraus: »Olé!« Dieses »Olé!« hatte alle, aber wirklich alle, die dort arbeiteten, über die Jahre zermürbt.
Leider war es dem alten Mann nicht möglich, dieses Wort zu variieren. Ein
zackiges »Olé!« hätte immerhin auf dringenden
Stuhlgang schließen lassen oder ein langes »Olééé!« seinem Schlafbedürfnis Ausdruck verleihen können. Aber nein, immerzu das gleich
intonierte Wort, das man dann nach Belieben interpretieren durfte. Und was bekam
man wohl auf Rückfragen, ob man auf der richtigen Fährte sei, vom Spanier zu
hören? Korrekt: »Olé!«
Die Altenpflegerin Elke, die drei Liter Kaffee am
Tag trank und mit fünfzig noch eine Pippi-Langstrumpf-Frisur hatte, sagte mal:
»Wenn die Menschen im Alter wieder zu Kindern würden. Einen perfekten Kreislauf
erjäbe dat. Dat hätte de läve Jott doch jut jemaat, oder etwa nisch?«
Damals nickte ich nur höflich, ohne zu verstehen,
was sie meinte.
Das gelingt mir erst jetzt, als ich vor dem
lärmerfüllten Hort stehe, in den gerade das Kostbarste und Nervigste
verschwunden ist, das es in meinem Leben gibt.
Maria und Josef 1 taucht nur Sekunden später in
bester Laune wieder vor mir auf, obwohl ich Sophies Geschrei noch deutlich
hinter ihrem Rücken ausmachen kann.
»No te preocupes« ,
beschwichtigt sie mich, »mach dir keine Sorgen. Am Anfang fällt es allen
schwer.«
»Si, si« , sage ich
und versuche meine Unruhe damit niederzukämpfen, dass ich den Kinderwagen
zusammenklappe, um ihn im Eingangsbereich abzustellen.
»Äh, der ist zu groß und passt hier nicht
rein.«
» Cómo ,wie bitte?« Verdattert lasse ich den
Falt-Schalt-Doppel-Hebel mit zweifacher Laschen-Klemmbremse los und starre Maria
und Josef 1 an. »Was soll ich mit dem Wagen in der Zwischenzeit machen?«, frage
ich.
Nach einigem Hin und Her schenkt mir Maria und
Josef 1 ein Lächeln zum Niederknien. Das Lächeln bedeutet, dass ich den leeren
Kinderwagen ab jetzt zweimal täglich durch Palmas Innenstadt schieben darf.
Auf dem Heimweg denke ich über die beiden Marias
und Josefs nach. Wie konnte nur so ein Name entstehen? Vielleicht trauen die per
se eher technikkritischen Spanier dem Ultraschallgerät nicht recht über den Weg.
Praktisch, wie sie nun mal sind, überlegen sich die werdenden Eltern zu Beginn
der Schwangerschaft daher einen Namen, der sowohl für weibliche wie auch für
männliche Nachkommen passen würde. So können sie das Ganze gelassen abwarten.
Egal, was es wird, einer der Namen geht immer. Wäre Maria José ein Junge
geworden, hätte man den Namen kurzerhand umgedreht und es wäre eben ein kleiner
José Maria daraus geworden.
Schon häufiger habe ich über einige Namen der
Spanier länger grübeln müssen. Vor allem über den einen oder anderen
Mädchennamen, auf die wir bei der Namenssuche für unsere beiden Halbspanierinnen
gestoßen sind: Dolores = Schmerzen, Montserrat = Sägeberg, Soledad = Einsamkeit,
Concepcion = Empfängnis.
»Gestatten, Sägeberg Schmitz mein Name«, oder:
»Herzlich willkommen, Frau Schmerzen Schröder«. Man könnte ja mal einen Mix
zwischen deutschen und spanischen Vornamen versuchen. Alle können prima je nach
Geschlecht hin und her gedreht werden: Dolores-Paul = Wenn es ein Junge wird,
eilt ihm sein Ruf als Türsteher und Schläger voraus. Als Mädchen scheint dagegen
eine Karriere als Apothekerin vorgezeichnet. Montserrat-Horst = Damit steht
einer vielversprechenden Karriere im Bergbau nichts im Wege, und zwar egal, ob
es ein Junge oder ein Mädchen wird.
Soledad-Ernst = Als melancholische Schönheit wird
das Kind in völliger sozialer Isolation aufwachsen. Es wird nur nachts auf den
Spielplatz gehen, im Schwimmbad Toter Mann spielen und auf Kindergeburtstagen
statt »Happy Birthday« weinend »As time goes by« singen.
Erheitert komme ich zu Hause an, falte den Wagen
zusammen und fahre mit dem Aufzug zur Wohnung hoch. Endlich mal ein bisschen
Ruhe. Ich gehe auf die Terrasse und blicke in den dunklen fünfeckigen Innenhof
hinunter. Er scheint von den Nachbarn in den angrenzenden
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