Papa
drückte Michelles Hände, nahm die Cola und setzte sich ein paar Tische weiter zu ihren Freunden, die überrascht aufschrien, sie umarmten und – wie es schien – mit ihr verschmolzen.
Michelle nippte an ihrem Kaffee, der irgendwie Geschmack eingebüßt hatte.
Sie freute sich, dass ihre Tochter seit langem wieder unbeschwert sein konnte, aber es zeigte ihr auch, wie schlecht es ihr selbst gelang. Seit die Anstalt angerufen hatte, zuckte sie bei jedem unbekannten Geräusch zusammen wie ein verängstigtes Kind. Hatte Tom letztendlich das aus ihr gemacht? Ein kleines Kind, das sich im Dunkeln fürchtete?
Sie ließ den restlichen Kaffee in der Tasse und stand auf. Lilly war so im Gespräch vertieft, dass sie nicht mal aufschaute. Michelle schnappte sich die Taschen und machte sich auf den Weg zum Auto.
Vor der Rolltreppe befiehl sie zum ersten Mal das Gefühl, beobachtet zu werden. Jemand starrte ihr in den Rücken, doch als sie sich umdrehte, war niemand da. Zumindest niemand, der sich verdächtig machte.
Sie entschloss sich, einen Umweg über die erste Etage zu nehmen. Im Kaufhof gab es ebenfalls eine Rolltreppe für die Tiefgarage. Sollte ihr jemand folgen, würde sie es ihm so schwierig wie möglich machen.
Sie fasste die Tüten fester und marschierte in den Laden, vorbei an Schmuck, Parfum, hin zur Unterwäsche.
Dort blieb sie stehen. Hinter einem Regal, in dem Männershorts sorgfältig gestapelt waren, ein paar Meter seitlich von ihr, kauerte ein Schatten.
Michelle versuchte, unauffällig hinzuschauen, was nicht einfach war. Die Tische mit der Spitzenunterwäsche standen eng, und mit all den Tüten war sie so beweglich wie ein Walross an Land.
Ihr Herz schlug bis zum Hals. Ein Teil von ihr wollte weglaufen, und ein anderer Teil, der wusste, dass Tom genau
das
genießen würde, wollte sich umdrehen und auf ihn zugehen.
Ihre Zähne malmten, bis der Unterkiefer schmerzte. Es war warm in dem Laden, und das Stimmengewirr begann zu nerven.
Der Schatten rührte sich nicht.
Michelle stieß einen scharfen Atemzug aus und ging weiter.
Eine weitere Rolltreppe brachte sie in das zweite Untergeschoss.
Ein paar Mal wären ihr die Tüten fast aus den Händen gerutscht, so schwitzen sie. Ihre Finger krampften sich um die Plastikgriffe, und als sie die Tür zur Tiefgarage aufstieß, schmerzten sie so sehr, dass Michelle fast losgelassen hätte.
Doch sie riss sich zusammen.
Waren da Schritte hinter ihr? Ein Grunzen? Die Tür fiel ins Schloss, noch bevor sie näher hinhören konnte.
Die Luft war kühl und roch nach Öl und Benzin.
An der Decke reihte sich Neonröhre an Neonröhre. Nicht jede leuchtete, ein paar flackerten dafür emsig.
Ein Parkhaus war ein Paradies für Schatten. Das wurde Michelle schlagartig klar, und sie spürte eine eiskalte Hand, die sanft ihren Nacken emporstrich.
Ihr Verstand redete auf sie ein, dass hier nichts passieren
konnte
. Verbrechen, das wusste sie inzwischen, geschahen nicht in der Umgebung eines Klischees, sondern dort, wo man es
nicht
erwartete.
Doch ihr Verstand scheiterte kläglich.
Die Echos, die ihre Schritte erzeugten, hallten von allen Seiten auf sie ein.
Die langen Autoreihen boten unzählige Verstecke. Überall konnte jemand lauern, plötzlich hervorspringen und sie zwischen zwei parkende Wagen zerren.
Ihren eigenen konnte sie bereits sehen.
Das Schlagen von Türen rollte wie Donner über sie hinweg. War das die Tür, durch die sie reingekommen war?
Ihre Hände würden die Tüten nicht mehr lange fassen können. Sie ging schneller, ignorierte den Krampf in den Fingern.
Schlurfende Schritte, die sie an Zombiefilme erinnerten.
Nicht umdrehen. Einfach weiterlaufen.
Michelle bekam kaum noch Luft. Immer wieder ermahnte sie sich, nicht hysterisch zu reagieren. Sie war in der Öffentlichkeit. Es war alles nur Einbildung.
Ein ersticktes Seufzen weit weg.
Nicht umdrehen, das Auto war schon ganz nah.
Schritte wurden hinter ihr laut, schwollen zu einem Crescendo an, das von den Wänden widerhallte und alles um sie herum erfüllte.
Panik schwappte aus ihrer Brust, klammerte sich an ihrer Luftröhre fest. Sie konnte nicht mehr atmen.
Alles verschwamm. Begann sich zu drehen.
Dabei musste sie noch dieses gottverdammte Auto
aufschließen
.
Noch zehn Schritte.
Wie Pfeile bohrten sich die hasserfüllten Blicke in ihren Rücken. Sie konnte den Schweiß riechen, den Tom ausdünstete in seiner lüsternen Gier.
Fünf.
Sie schmeckte Salz auf den Lippen, noch bevor ihr
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