Papa
lähmten. Zumindest eine kleine Weile. Hierherzufahren war das einzig Richtige gewesen. Michelles Job am heutigen Tage war es, für Lilly diverse Bekleidungsstücke heranzukarren, während sich ihre Tochter in der Umkleidekabine aus- und anzog. Lillys Kopf war puterrot, und man merkte ihr den Spaß an, den sie hatte. Es war schön zu sehen, wie ihre Tochter Zeit und Raum vergaß.
Bei einigen Outfits musste Michelle schwer schlucken, aber das konnte ihr nicht die Stimmung verderben. Sie war in Spendierlaune.
Im vierten oder fünften Bekleidungsgeschäft ließ ihre Konzentration jedoch stark nach. Lillys Laune war indessen ungebrochen. Zwei große Einkaufstüten hatte sie bereits abgestaubt, und Michelle war sicher, dass noch die ein oder andere hinzukommen würde.
Sie selbst hatte nie großes Interesse an feiner Kleidung gezeigt. Als Kind hatte sie viel Zeit in der Werkstatt ihres Vaters verbracht. Schmiermittel und Dreck waren ihr Spielzeug. Mit Puppen hatte sie nie etwas anfangen können.
Eigentlich hätte sie Automechanikerin werden sollen, und doch war sie Lehrerin geworden. Man traf eine Entscheidung nach der anderen, und hinterher konnte man nur staunen, wo es einen hingetrieben hat.
»Mama? Träumst du?«
Sie schreckte auf. »Was? Hast du was gesagt?«
Lilly stand in Unterwäsche vor ihr mit mehreren Kleiderbügeln in der Hand und verzog das Gesicht. »Vielleicht sollten wir eine Pause machen?«
»Das ist eine hervorragende Idee. Ich könnte eine Kleinigkeit vertragen.«
Lilly knabberte an der Unterlippe. »Aber ich darf jetzt nicht durcheinander kommen. Von dieser und dieser Hose brauche ich noch andere Größen. Hier passe ich ja zweimal rein. So einen fetten Bauch habe ich nicht. Diese T-Shirts gehen wieder weg, und diese Bluse will ich in einer anderen Farbe. Und wir müssen noch gucken, ob es einen passenden Gürtel gibt. Aber nicht so was Omahaftes. Vielleicht gibt’s ja einen mit Strass?!« Sie jonglierte mit ihrem Haufen Stoff, dass Michelle ganz schwindelig wurde.
Ein Kaffee wäre jetzt genau das Richtige.
Lillys Augen glühten auf. »Oh, und können wir danach noch in die Drogerie? Ich brauch noch Rouge und einen dezenten Lippenstift. Vielleicht ein cooles Parfum?«
Ein Kaffee mit einem ordentlichen Schuss Rum. Michelle lächelte bei dem Gedanken.
Aber es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Lilly alle Sachen beisammenhatte und sie sich in einem nahen Café an einen Tisch setzten. Der Nachmittag war schon weit vorangeschritten. Sie würden ihren Einkauf im Dunkeln beenden müssen.
Michelles Füße fühlten sich geschwollen an, und die Erleichterung, nicht mehr auf ihnen stehen zu müssen, breitete sich kribbelnd im ganzen Körper aus.
Mit der Ruhe, wie konnte es anders sein, kehrten auch die Gedanken an Tom zurück. Warum ließ dieser Mistkerl sie einfach nicht los?
Unwillkürlich schaute sie sich um. Das Café war wenig besucht. An einem Stehtisch nahe der Kasse stritt ein älteres Ehepaar aufgeregt miteinander.
Den beiden gegenüber saß eine Gruppe Jugendlicher, jeder Einzelne in sein Smartphone vertieft.
Eine Verkäuferin wischte über die leeren Tische und ihre Kollegin werkelte im Hinterzimmer, aus dem der Duft von Frischgebackenem zu ihnen herüberwehte.
Michelle zwang sich zur Ruhe. Die Anstaltsleiterin hatte wahrscheinlich recht. Tom würde nicht einfach in die Öffentlichkeit gehen, sie gefügig schlagen und wegschleppen, um noch schlimmere Dinge mit ihnen zu machen.
Warum nennst du die Dinge nicht beim Namen? Sag, was er dir angetan hat. Sag, wie es ihn
angemacht
hat.
Michelle schob den Gedanken an ihren Exmann beiseite.
Als ihr Kaffee und Lillys Cola kamen, bimmelten die Glöckchen der Eingangstür, und ein paar Jugendliche traten ein. Sie waren so in ihre Gespräche vertieft, dass sie nicht hersahen.
Lilly blickte hoch und grinste. Dann sah sie ihre Mutter an. »Da sind ein paar Leute von meiner Schule. Macht es dir etwas aus, wenn ich zu ihnen rübergehe? Es sind Freunde von Patrick. Endlich Leute, mit denen man quatschen kann.« Sie lächelte.
Michelle ignorierte das egoistische Stechen in ihrer Brust. »Nein, nein, geh ruhig«, sagte sie mit einem Lächeln und einem beleidigten Herz. »Dann kann ich gleich schon mal ein paar von den Tüten ins Auto bringen. Wir müssen die ja nicht die ganze Zeit mit rumschleppen.«
Außerdem
, dachte sie,
bist du hier in Sicherheit bei deinen Freunden. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass Tom doch aufkreuzt.
Lilly
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