Papa
klar wurde, dass es ihre Tränen waren.
Michelle ließ die Tüten fallen.
Drei. Zwei Schritte.
Sie griff in die Hosentasche, zückte den elektrischen Schlüssel und drückte drauf.
Mit einem »Klack« entriegelten die Türen. Sie riss die nächstgelegene auf.
Ein übergroßer Schatten schob sich vor das Licht. Ein Luftzug streifte sie. Michelle schrie auf, wirbelte herum und sah gerade noch einen Mann an ihr vorbeihetzen, der verständnislos den Kopf schüttelte.
Sie setzte sich zitternd auf die hintere Sitzbank des Autos und verschnaufte. Tränen liefen ungehemmt aus ihr heraus.
Es gab kaum einen Moment, in dem sie Tom mehr hasste, als in diesem. Das musste aufhören. Sie biss sich auf die Lippen. Das
würde
aufhören.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich erholt hatte. Mit weichen Knien sammelte sie die Tüten auf, verstaute sie und machte sich auf den Weg zurück.
Ihr war die Lust aufs Einkaufen vergangen.
Das Klingeln der Glöckchen beim Eintreten in das Café hatte eine unerwartete Wirkung auf Michelle. Das Unwohlsein fiel von ihr ab, und sie fühlte sich schlagartig sicher. Zwar gab es in ihrem Hinterkopf noch eine Kammer voller Gefahrenschilder, die war jedoch verschlossen.
Sie blieb einen Moment in der Tür stehen und beobachtete die Verkäuferin an der Kasse, die einer Mutter und ihrem kleinen Sohn ein paar Berliner verkaufte.
Hier fühlte sich ihre Angst dumm an. Einen kurzen Moment überlegte sie, für sich und Lilly ein Hotelzimmer zu mieten, solange man Tom nicht gefunden hatte. Doch der Gedanke war absurd.
Sie ging an der Kasse und den Stehtischen vorbei zu den Sitznischen. Die handysüchtigen Jugendlichen waren nirgends zu sehen. Michelle ging weiter um eine Palme herum, die bis an die Decke wuchs, und schaute um die Ecke. Auch Lillys Freunde waren nicht mehr da.
Sie drehte sich im Kreis. War Lilly auf der Toilette?
Die Glöckchen bimmelten, als die Mutter und ihr Sohn das Café verließen.
Das sichere Gefühl war ebenfalls gegangen.
Bis auf Michelle und die Verkäuferinnen war niemand mehr im Laden. Schnurstracks ging sie auf die Dame an der Kasse zu. »Entschuldigung, meine Tochter war vorhin mit ein paar Jugendlichen hier. Hat sie Ihnen gesagt, ob sie gleich wiederkommt?«
Die Verkäuferin, eine junge Frau mit dunkel gefärbten Zähnen und kurzen Locken, schaute sie erst an, als ob sie im Stillen die Wörter in eine andere Sprache übersetzen musste, und antwortete dann stakkatoartig:
»Nee. Jugendliche? Da kommen viele. Vorhin erst. Haben bezahlt und sind gegangen. Da hat keiner was gesagt.«
»Wo sind bei Ihnen die Toiletten?«
Die Frau deutete an ihr vorbei. »Da hinten. Wenn Sie mal müssen, brauchen Sie aber ’nen Schlüssel, sonst komm’ Sie nich’ rein.« Sie schaute Michelle auffordernd an und fragte dann weiter:
»Müssen Se’?«
Michelle schüttelte den Kopf, war in Gedanken schon ganz woanders. Warum hatte Lilly nichts gesagt? Sie wandte sich erneut an die Verkäuferin. »Wann sind die Jugendlichen denn gegangen? Meine Tochter war bei ihnen, und eigentlich wollten wir noch einkaufen.«
Die Frau hob die Schultern. »Keine Ahnung. Die sind vorhin weg. Ich kann nicht immer auf die Uhr gucken.«
Michelle nickte. Mehr Informationen würde sie nicht bekommen. Sie bedankte sich und ging noch einmal zu dem Tisch, an dem Lilly gesessen hatte. Vielleicht hatte sie ja eine Nachricht hinterlassen?
Wenn man nicht weiter wusste, klammerte man sich an jeden noch so kleinen Zweig.
Es war bereits spät. Die Sonne, die von immer mehr Wolken verdeckt wurde, war bereits hinter den gegenüberliegenden Häusern verschwunden. Das Café versank mehr und mehr im Schatten. Offenbar hielten die Verkäuferinnen es noch nicht für nötig, das Licht einzuschalten.
Michelle schaute auf den Tisch. Ein Aschenbecher stand darauf, obwohl man hier eigentlich nicht rauchen durfte, eine winzige Vase mit einer einzelnen Plastikblume und ein Ständer mit der Getränkekarte. Keine Nachricht.
Sie wollte sich schon umdrehen und das Café verlassen, als sie auf Lillys Stuhl eine Karte sah. Sie hob sie auf und drehte sie in der Hand.
Nein, keine Karte. Ein Polaroid. Und darauf, mit einem Filzschreiber gemalt, ein Wolf und ein Schaf.
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Kapitel 9
B ereits am Morgen dieses Tages stand Robert Bendlin am Seziertisch und überlegte, welche Konsequenzen es hätte, würde er sich jetzt an Ort und Stelle übergeben. Er bedauerte es, bei Inge im Imbiss gefrühstückt zu haben, und tat so, als
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