Papa
Lippen. Die Finger gehorchten ihr kaum, als sie den Zettel auseinanderfaltete. Sie überflog die Seiten kurz und las dann genauer.
Liebste Michelle,
wahrscheinlich verfluchst du mich gerade. Das ist okay, ein Lehrer muss kein Freund sein. Das Wichtigste ist die Lektion.
Ich bete dafür, dass du begreifst. Aber keine Sorge, es ist ja noch nicht vorbei. Natürlich sollte dir klar sein, dass das Leid, das dir widerfährt, mit meinem nicht zu vergleichen ist. Aber es muss genügen.
Ich nehme viel auf mich, um dir das richtige Einfühlungsvermögen beizubringen. Empathie ist etwas, das hart erarbeitet werden muss. Aber es zahlt sich aus.
Übrigens schreit Lilly immer wieder nach dir. Ich kann sie von hier aus hören. Sie bettelt. Sie bettelt, nach Hause zu dürfen. Schade, dass du so weit weg bist. Aber keine Sorge, ich kümmere mich gut um sie. Immerhin ist sie doch so etwas wie meine Tochter, nicht wahr?
Mit dem nächsten Schritt wirst du ihr näherkommen, das verspreche ich, denn es geht hier um dich und nicht um sie.
Im Briefumschlag ist noch ein kleiner Zettel. Bitte komm doch zu der dort angegebenen Lagerhalle. Da wartet eine Überraschung auf dich.
Hach, ich würde es so gerne verraten, aber … nein, das mache ich nicht. Sonst geht doch der ganze Spaß verloren.
Komm dorthin. Alles Weitere erfährst du da.
Oh, und bring ein Taschentuch mit!
In Liebe,
Tom
PS: Beim nächsten Mal, wenn du dich versteckst, nehme ich dich mit ;)
Kein Wort davon, dass er die falsche Chinesin bekommen hatte. Erleichtert atmete Michelle aus, griff zum Umschlag und fischte mit dem Zeigefinger einen kleinen Zettel heraus. Darauf stand eine Adresse am Stadtrand im Industriegebiet.
Sie las den Brief erneut. Gab es einen versteckten Hinweis? Irgendetwas, das sie auf das Kommende vorbereitete?
So sehr sie auch suchte, der Brief war nur ein Brief von einem geflohenen Serienmörder. Sie steckte den Zettel ein und ging auf den Flur zur Garderobe, wo ihre Handtasche hing.
In ihrem Magen wanden sich Zitteraale, die Michelles Körper unter Strom setzten. Ihr Kopf fühlte sich schwammig an, und das lag nicht nur am Alkohol.
In der Tasche steckte der wiederaufgeladene Taser. Den durfte sie nicht vergessen. Was immer in der Lagerhalle auf sie wartete, sie würde ihre Chance nutzen, sobald Tom auftauchte.
Sie zog sich einen Mantel über und ging zur Tür. In diesem Moment verdunkelte ein Schatten die Glasscheibe. Erschrocken taumelte sie zurück. Es klingelte. Michelle erstarrte und zählte bis fünf. Der Mann ging nicht weg. Er legte die Hände an den Kopf, um seine Augen abzudunkeln, und versuchte, durch die Scheibe zu gucken. Dann klingelte er noch mal. Michelle riss sich zusammen, kramte den Rest Selbstsicherheit hervor, die sich irgendwo tief in ihrem Magen zwischen all den Zitteraalen versteckt hielt, und ging zur Tür.
Ihre Hand schob sich fast automatisch in die Handtasche und umschloss den Elektroschocker. Er fühlte sich stark an. Mit ihm war es leichter, die Tür zu öffnen.
Vor ihr stand ein Mann mittleren Alters, auch wenn ihn die Glatze wahrscheinlich älter machte. Er wirkte sportlich, allerdings auch ausgezehrt. Sein Gesicht zeigte eine gewisse Reife mit tiefen Grübchen.
Michelle registrierte all das in einem Bruchteil einer Sekunde. Zuschlagen, oder den Taser stecken lassen?
»Hallo, tun Sie mir nichts«, der Mann hob abwehrend die Hände und lächelte mit Blick auf die Handtasche, die Michelle in Brusthöhe hielt, mit einer Hand darin. »Ich weiß, Sie haben viel durchgemacht und allen Grund, misstrauisch zu sein. Doch ich bitte Sie, mir zuzuhören.«
»Äh«, Michelle schüttelte den Kopf und zog die Hand aus der Tasche. »Tut mir leid, kenne ich Sie?«
»Mein Name ist Robert Bendlin. Ich arbeite mit Ihrem Exmann Maik zusammen.«
Jetzt dämmerte es Michelle. Das Gesicht kannte sie. Maik hatte ihr irgendwann mal Fotos gezeigt. Allerdings von einer jüngeren Version dieses Mannes.
»Ja, und?«
Robert Bendlin schaute sich um, als erwartete er einen Angriff aus dem Hinterhalt. »Darf ich reinkommen? Ich denke, es ist dringend.«
Michelle stellte sich in die Tür. »Das ist gerade schlecht. Ich wollte eben das Haus verlassen.«
»Ich schätze, dafür sollten Sie sich etwas Zeit nehmen.«
Zögernd blieb Michelle in der Tür stehen. Gern hätte sie jemandem vertraut. Aber es ging hier um ihr kleines Baby. Jedes noch so geringe Risiko war zu viel. »Wenn Sie ein Partner von Maik sind«, sagte sie, jetzt gar
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