Paperboy
anstarrten, alles um sie herum totenstill bis auf ihren harschen Atem und das Knarren der Pritschen.
Allerdings spürte sie, dass sie bei Hillary Van Wetter nach etwas Tiefgründigerem suchte, als es ihr die gewöhnlichen Killer bieten konnten.
Sie wollte jemanden, der keine Kompromisse einging. Kaum hatte man Hillary verurteilt – sie begann ihre Briefe danach mit »Mein lieber Harry« – und in die Todeszelle gesteckt, sandte sie ihm ihr Bild und unterschrieb es mit: »Für Hillary Van Wetter, einen integren Mann. Mit wärmsten Empfehlungen, Charlotte.«
Als ich im Begleitbrief dieselbe Formulierung las – »ein integrer Mann« –, musste ich plötzlich an meinen ungarischen Schwimmlehrer an der Universität von Florida denken. Mobilisiere deine ganze Kraft fürs Schwimmen.
Sie wusste, wie sehr ihr das Foto schmeichelte, fand es aber im Großen und Ganzen angemessen. Es gab ihre wesentlichen Merkmale korrekt wieder, glättete ihre Haut, ließ sie weicher wirken und zeigte zudem keinen Teil ihres Körpers, an dem sie, selbst nicht in kritischen Momenten, etwas auszusetzen hatte.
Und falls sie beim Versenden des Bildes bereits wusste, dass sie irgendwann vor Hillary Van Wetter nicht in exakt derselben Gestalt erscheinen würde wie angekündigt, dann war die Täuschung keineswegs so gravierend wie etwa bei den Abbildungen auf Verpackungen von Tiefkühlkost, die Erbsen so grün wie grüne Kreide versprachen und graue Erbsen enthielten.
Sie war keine graue Erbse.
Acht Tage nachdem sie ihr Bild abgeschickt hatte, traf ein Brief aus Starke in Florida ein:
Geehrte Miss Charlotte Bless,
vielen Dank, dass Sie mir einen Brief über meine Unschuldigkeiten geschrieben haben. Ich hab da ein paar Sachen vor, die gehen in die gleiche Richtung. Gibt’s kein Bild, wo mehr von Ihnen drauf ist, damit ich weiß, womit ich’s zu tun habe?
Ihr ergebener
Hillary Van Wetter / Nr. 39269
Postfach 747
Starke, Florida
Sie las die Worte und meinte, seine Stimme zu hören. Keine Ausflüchte, kein Anwaltsgeschwafel, kein Herumgejammer. Er war reiner als die anderen Killer, aber das hatte sie ja von Anfang an gewusst. Ungebrochen vom Knast und den ganzen Juristen, ein integrer Mann.
Und selbst wenn man zugab, dass die Romanze mit Hillary Van Wetter im Kern auf einem gewissen Missverständnis beruhte, würde doch niemand, der Hillary Van Wetter persönlich kennengelernt hatte, behaupten wollen, dass sich Charlotte Bless ganz und gar geirrt hätte.
NACH GENAUER ZÄHLUNG stellte sich heraus, dass Charlotte Bless in mehr als vier Jahren einundvierzig Kartons mit »Beweismaterial« gesammelt hatte: Zeitungsausschnitte, Briefe an und von Hillary Van Wetter sowie den Briefverkehr mit einem halben Dutzend weiterer Mörder, Prozessmitschriften, Mitschriften der beiden anschließenden Berufungsverfahren und eine Kurzbiografie aller elf Richter, die bislang mit dem Fall zu tun gehabt hatten.
Es gab mehrere Zeitungsberichte berühmter Mordfälle, in denen dieselben Richter zuvor Recht gesprochen hatten, nebst einer Liste aller Rechtsbeugungen, die in den letzten fünfzehn Jahren seiner Amtstätigkeit durch Sheriff Thurmond Call verübt worden waren.
Und sämtliche Kartons enthielten eine Art fortlaufendes Tagebuch, vermengt mit den übrigen »Beweisstücken«, das nicht nur die Rechtsprechung kritisierte und alternative Theorien über die Mordfälle aufstellte, sondern auch Charlotte Bless’ intimste Gedanken seit Beginn des Falls vermerkte.
In einem Abschnitt analysierte sie Richter Waylan Lords Umgang mit der Todesstrafe, und im nächsten hielt sie fest, dass, Hillary Van Wetter ausgenommen, alle Mörder, die ihr geschrieben hatten, den Mund an ihre Vagina und ihre Poritze pressen wollten. Hillary hatte kein derartiges Verlangen, was für sie ein »psychologischer Beweis« seiner Unschuld war.
Er wünschte sich, dass sie ihm einen blies, genau wie manch ein Richter.
YARDLEY ACHEMAN und mein Bruder hockten eine Woche lang jeden Tag in ihrem Büro und lasen alles, was die Beweissammlung enthielt. Ward öffnete einen Karton, nummerierte ihn, untersuchte den Inhalt und machte sich dabei Notizen. War er mit einem Karton fertig, gab er ihn an Yardley Acheman weiter, der ihn weit schneller durcharbeitete und sich keine Notizen machte, aber manchmal innehielt und eine Stelle laut vorlas.
»Hört euch das an«, sagte er. »Sie schreibt, wie sie ihm vor den Augen aller Gefängnisinsassen durch das Zellengitter einen bläst, und dann,
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