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Paperboy

Paperboy

Titel: Paperboy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Dexter
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während niemand das Lenkrad hielt.
    »An der University of Florida. Ich war in der Unimannschaft.«
    »In einem Becken?«
    Sie sog an der Zigarette, und der Wind fuhr in die Glut und blies Funken in ihr Haar. »Doch nicht etwa im Ozean, oder?«
    »Nicht mit der Universität«, sagte ich.
    »Gut.«
    Und wieder schwiegen wir. Einige Minuten später fuhren wir durch Starke und bogen nach Norden auf den Highway 16. Sie sah ein Schild, das die Entfernung zum Staatsgefängnis angab, und wurde langsamer, ehe sie vorbeifuhr, schaute es an, bis es hinter uns verschwand, als wäre es etwas, an das sie sich erinnern wollte. Dann schien sie für eine Weile in den Anblick der Landschaft versunken zu sein. Sie betrachtete die flache, leblose Gegend, als hätte – wie auf einem Schlachtfeld aus Zeiten des Bürgerkriegs – jedes Detail eine besondere Bedeutung.
    Ich dachte immer noch an Gainesville und an das, was dort geschehen war. Daran, wie ich vergessen hatte, wo ich war. Ich wollte ihr davon erzählen, weil ich glaubte, dass es mich interessanter machte.
    »Es war ein Hallenbad«, sagte ich und wusste nun wieder, wie es sich angefühlt hatte, »Geräusche hallten von der Decke aufs Wasser und gegen die Wände. Ich hätte unmöglich sagen können, wo sie herkamen.«
    Sie wandte sich vom Fenster ab. Der Wind hatte ihre Zigarette ausgeblasen. »Was für Geräusche?« fragte sie.
    »Geschrei«, sagte ich, »viel Geschrei. Pfiffe. Der Trainer kam aus Ungarn, da pfeifen sie gern. Wir waren täglich vier Stunden im Wasser, manchmal länger, jeden Tag, außer sonntags, sechs Monate im Jahr.«
    »Wir?«
    »Die Schwimmer. Ich war in einer Mannschaft.«
    »Und Sie haben vergessen, wo Sie waren.«
    Ich nickte. Genau das war passiert. Wir hatten am Tag zweimal Training, früh und spät. Ich war die ganze Zeit im Wasser, und nachts, in meinen Träumen, war ich wieder drin.
    Um halb sechs wachte ich auf, damit ich um sechs im Becken sein konnte, und der fehlende Schlaf und die Erschöpfung sorgten irgendwann dafür, dass die Träume in den Tag drangen, so wie die Tage in die Träume gedrungen waren, und so schwamm ich morgens meine Bahnen und wusste plötzlich nicht mehr, wo ich gerade war.
    Wenn das geschah, hörte ich entsetzt auf, drehte mich auf den Rücken, ließ mich treiben und achtete nicht auf das Geschrei und die Pfiffe. Ich schaute an die Decke und auf die Wände, auf meine Beine, Arme und Brust, um sie zu sehen und mich zu vergewissern, wo sie waren.
    Drei Mal hatte ich mich im letzten Semester aus dem Bett gedreht.
    Und dann verlor ich das Stipendium und wurde exmatrikuliert, kehrte zurück nach Moat County in mein eigenes Zimmer, in mein eigenes Bett und merkte, dass mir die Krankheit nach Hause gefolgt war.
    Charlotte Bless hörte nicht mehr zu, also blickte ich nach draußen und sah es vor uns liegen, das Gefängnis.
    SIE BOG IN EINE KIESBESTREUTE AUFFAHRT , die zum Tor mit der Aufschrift »Besucher« führte. Das Gefängnis lag ungefähr zweihundert Meter dahinter, umgeben von einem mit Stacheldrahtrollen bewehrten Gitterzaun. Darauf folgte ein zweiter, kleinerer, aber ebenfalls mit Stacheldraht verstärkter Zaun, und in der Dämmerung des späten Nachmittags lagen zwischen den beiden Zäunen etwa zwei Dutzend großer Hunde, selbst potenzielle Killer, die brutalsten Exemplare, die man aus ebendiesem Grund vor der Gaskammer im Tierkontrollzentrum des Landes bewahrt hatte.
    »Wir würden gern auf dem Parkplatz bleiben«, sagte sie zum Wachposten.
    Er schaute in den Wagen, musterte ihn von vorn bis hinten und schüttelte dann den Kopf. »Dazu brauchen Sie eine Genehmigung, Miss«, sagte er, »aber dafür ist es jetzt zu spät. Geschäftszeit ist von neun bis halb fünf. Besuchszeiten auf Anfrage.«
    Dann starrte er mich an, ich wusste nicht, warum.
    »Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Er ist von der Presse.«
    WIR FUHREN RÜCKWÄRTS aus der Auffahrt und blieben eine Weile auf der Straße stehen. Charlotte Bless besah sich das Gefängnis vom einen bis zum anderen Ende, seufzte dann und ließ sich wieder in den Sitz sinken. Sie schloss die Augen.
    »Wissen Sie, wo sie sitzen?« fragte sie.
    »Wer?«
    »Die Insassen der Todeszellen. Wissen Sie, wo die sind?«
    Ich sagte: »Hier sieht alles nach Todeszelle aus.«
    »Drüben, ganz rechts«, sagte sie, und ich blickte in die entsprechende Richtung, aber für mich unterschied sich die angegebene Stelle durch nichts vom übrigen Gebäude. »Sie lassen Tag und Nacht das Licht

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