Paperboy
»Akten« gefüllt. Das Gewicht der oberen Kartons drückte die unteren zusammen, sodass die ganze Wand aussah wie eine Sammlung verkrampft lächelnder Grimassen.
Yardley Acheman saß auf der anderen Seite des Zimmers und trank noch ein Bier, den Stuhl an die Wand hinter ihm gekippt, die Beine auf dem Tisch übereinandergeschlagen. Er betrachtete Charlotte Bless mit einer Miene, die verriet, dass er sich noch keine endgültige Meinung über sie gebildet hatte. Aber vielleicht musste er sich auch nur an ihren Anblick gewöhnen. Auf den Bildern hatte sie jünger gewirkt.
Niemand, der sich für die Frage interessiert, wo Journalisten ihre Storys herhaben, sollte glauben, dass die Kompassnadel jedes Mal neu ausgerichtet wird. Was sie fasziniert, das ändert sich nicht, nur der Ort, an dem sie es aufspüren.
Mein Bruder und ich lehnten an den Fensterbänken. Die Fenster standen offen, der Geruch von Zwiebeln lag in der Luft, unterlegt mit Charlotte Bless’ Parfüm.
Sie saß da, als würde sie in ihrem eigenen Wohnzimmer sitzen. Die Knie hatte sie fast bis an den Kopf hochgezogen, mit den Armen hielt sie ihre Beine umschlungen. »Ich bin hergekommen«, sagte sie und schaute wieder Yardley an, »weil ich – von meinen persönlichen Gefühlen für Hillary einmal abgesehen – einen Akt der Ungerechtigkeit korrigieren und einen unschuldigen Mann befreien will.«
Yardley Acheman tippte mit der Flasche sanft an seine Lippen und reagierte nicht. Mein Bruder blieb reglos sitzen und wartete.
»Das ist doch auch Ihr Ziel, oder?« fragte sie.
»Sie wollen ihn heiraten«, sagte Yardley Acheman.
»Wir sind verlobt«, gab sie zurück. Ich warf einen raschen Blick auf ihre Hände und versuchte herauszufinden, welcher Ring von Hillary Van Wetter stammte. Statt eines Steins trug sie in dem Ring am Zeigefinger einen Babyzahn.
Yardley Acheman sah meinen Bruder an.
»Das ändert gar nichts«, sagte sie. Es war still im Zimmer. »Oder doch?«
Mein Bruder rührte sich, wodurch er ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Er schien etwas sagen zu wollen, doch dann überlegte er es sich anders und blieb stumm.
»Mr. Acheman?« fragte sie, beugte sich vor und entblößte ein wenig mehr von ihrer Brust. Er tippte sich mit der Bierflasche an die Lippen und dachte nach.
»Nein«, sagte er.
CHARLOTTE BLESS hatte Hillary Van Wetter zum ersten Mal zu Gesicht bekommen, als sie ein Bild von UPI auf der Titelseite einer vier Tage alten Ausgabe der
New Orleans Times-Picayune
sah, die jemand bei der Arbeit auf dem Mittagstisch liegen gelassen hatte.
Auf dem Bild war er in Handschellen und wurde in Lately die Stufen zum Gericht hinaufgeführt. Er stand unter Anklage, Sheriff Thurmond Call ermordet zu haben.
Sie saß in der Kantine der Hauptpost von New Orleans, in der Loyola Street. Die Zeitung lag auf dem Tisch, jemand hatte die Sportseiten herausgerissen, auf dem Papier trockneten rote Bohnen und Reis. Sie wischte die Essensreste weg und betrachtete das Bild, das leicht verwackelt war, aber trotzdem eine gewisse Intensität im Gesicht jenes blonden Mannes einfing, der zwischen zwei mondgesichtigen Hilfssheriffs stand, und sie spürte, wie es sie zu ihm hinzog.
Den übrigen Mördern nach zu urteilen, deren Akten sie zusammen mit Hillary Van Wetters Unterlagen im Volkswagen transportiert hatte, hegte sie eine Vorliebe für blonde Männer.
Sie hatte die Story unter dem Bild gelesen – es waren nur einige Absätze, die vor allem die Laufbahn von Sheriff Call wiedergaben –, und als ihre Mittagspause zu Ende ging, riss sie Bild und Artikel aus der Zeitung und stopfte sie in ihre Tasche. In der Kantine war das möglich, in der Abteilung wäre es eine Straftat gewesen, denn hinter den abgedunkelten Fenstern saßen Aufpasser, die die Briefsortierer gerade auf ein derartiges Vergehen hin kontrollierten.
Bisher hatte Charlotte Bless’ Ehrgeiz nur das Ziel gekannt, ihre Karriere beim Postamt von New Orleans als eine Aufpasserin hinter diesen abgedunkelten Fenstern zu beenden. Eine solche Arbeit hätte ihr gefallen, sie war sogar entschlossen, alle Beförderungsangebote abzulehnen, die über diese Stelle hinausgingen. An jenem Abend schrieb sie ihren ersten Brief, Luftpost, einen fünf Seiten langen Bericht, der Hillary Van Wetter schilderte, wie sie sein Bild entdeckt hatte und welche Stellung sie bei der Post einnahm, der von den Essensresten auf dem Tisch erzählte, den nie einer sauber machte, und der ihr »Dilemma« beschrieb, dass sie sich
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