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Paperboy

Paperboy

Titel: Paperboy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Dexter
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nämlich inmitten der ganzen Schweinerei hier die Frage stellte, wie ein ordentlicher, sorgfältig rasierter Mann wie Hillary Van Wetter in eine solche Situation hatte geraten können.
    Sie machte einen Durchschlag, legte die Kopie in einen Karton und schrieb
H.V.W
. darauf.
    Er war nicht der erste Mörder, dem sie geschrieben hatte, aber er war der erste, der mit einem Messer gemordet hatte. »Wäre ich an Ihrer Stelle gewesen«, schrieb sie ihm am Ende des Briefes und schlug damit einen seltsam vertraulichen Ton an, »hätte ich mich – wäre ich so sehr provoziert worden, dass ich jemanden töten wollte – bestimmt ebenfalls für die Intimität der Klinge entschieden.«
    Sie erhielt keine Antwort.
    Im nächsten Brief stand, sie wisse, dass er sich noch am Anfang seiner juristischen Reise befinde, genau das waren ihre Worte, und daher wohl zu beschäftigt sei, um den üblichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten nachzukommen. »Und fotogen wie Sie sind«, fügte sie hinzu, »erhalten Sie sicher weit mehr Briefe, als Sie beantworten können.«
    IN DEN NÄCHSTEN FÜNF MONATEN ging Charlotte jeden Nachmittag nach der Arbeit in die öffentliche Bibliothek von New Orleans und suchte nicht nur in den Seiten der
Times-Picayune
und der
States-Item
, die beide kaum über Ereignisse außerhalb Louisianas berichteten, nach einer Erwähnung von Hillary Van Wetter, sondern las auch die
Atlanta Constitution
, die
Miami Times
und die
Tampa Times
.
    Als das allgemeine Interesse an der Story abflaute, wurden Hillary Van Wetter und Sheriff Call seltener erwähnt. Doch dafür wurde Charlotte später, während des eigentlichen Prozesses, mit täglicher Berichterstattung belohnt, und sie schnitt alle Artikel sowie sämtliche Bilder von Hillary Van Wetter aus, selbst wenn es Fahndungsfotos waren, die sie bereits besaß.
    Sie schnitt auch die Bilder von Sheriff Call, vom Staatsanwalt, dem Strafverteidiger und den beiden Schöffen aus, die nach dem Urteil interviewt und fotografiert worden waren. Manchmal schaute sie sich morgens die Bilder an, wenn sie vor lauter Sorge um Hillary aufwachte, und es tröstete sie, diese Männer mit ihm zu vergleichen. Ihr Leben lang hatte sie Männer mit solch weichen Gesichtern zurückgewiesen.
    An einem kleinen, vom vorderen Tresen nicht sichtbaren Tisch der Bibliothek schnitt sie die Bilder aus der Zeitung, wobei sie eine kleine Nagelschere mit stumpfen Enden benutzte, die die Ränder der leeren Rahmen ausfranste. Sie schämte sich, die Bilder zu stehlen, und hinterließ einmal im Kummerkasten einen Zettel mit dem Hinweis, dass die Bibliothek ein besseres Sicherheitssystem gebrauchen könnte. Sie hatte auf die abgedunkelten Fenster im Postamt verwiesen.
    Zu Hause klebte sie die Artikel und Bilder auf Schreibmaschinenpapier und legte die Blätter zuunterst in den mit
H.V.W
. beschrifteten Karton. Sobald er halb voll war, begann sie einen neuen Karton.
    Unterdessen schickte sie Hillary Van Wetter jede Woche einen Brief ins Gefängnis – lange, ausschweifende Briefe mit Beschreibungen des Postamts und der Leute, die dort arbeiteten, der Geräusche, die nachts durch die Wände ihrer Wohnung drangen, und davon, was sie von einem Artikel über ihn hielt oder wie er ihr auf einem Foto gefiel, das sie entdeckt hatte.
    Es war noch zu früh, um Druck zu machen.
    Die übrigen der von ihr ausgewählten Mörder waren seit dem ersten Brief, sogar noch ehe sie ihr Bild geschickt hatte, eifrige und treue Korrespondenten gewesen. Doch waren ihre Antwortschreiben letztlich so eintönig, dass Charlottes Interesse erlahmte. Sie schickte ihnen zwar noch nichtssagende Karten aus dem Urlaub, machte sich aber nicht mehr die Mühe, einige der dickeren Umschläge zu öffnen, die als Absender eine Kennnummer trugen. Sie waren alle gleich, steckten voller Juristenjargon und Geschichten von vergesslichen Anwälten, dem Gefängnisalltag und ihren erotischen Sehnsüchten, und alle versprachen Sex, der Tage und Monate dauern sollte.
    Schlimmer noch waren die, die Bücher lasen und laufend tote Philosophen zitierten. Meistens deutsche.
    Nichts über die Verbrechen. Kein Wort über die Opfer oder den Tatort, an dem der Mord passiert war. Keinen einzigen Hinweis darauf. Fast schien es, als wäre die eine aufregende Sache in ihrem Leben nie geschehen.
    Trotzdem hatte Charlotte Bless sie noch nicht völlig abgeschrieben. Sie dachte nachts an sie, wie sie, eingesperrt in sechs verschiedenen Bundesstaaten, im Halbdunkel der Zellen ihr Bild

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