Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paperboy

Paperboy

Titel: Paperboy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Dexter
Vom Netzwerk:
wo die Neuigkeit auf mich wartete. Kummer umhüllte mich wie eine Decke, sammelte sich in meiner Kehle, und ohne Vorwarnung blinzelte ich plötzlich Tränen weg. Ward sah sie, und einen Moment lang schien es, als wolle er mich berühren. Ich glaube, er hätte es gern getan, aber dann drehte er sich um und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
    »Dich hat’s schlimm erwischt«, sagte er aus dem Dunkel. »Das kostet viel Kraft.«
    »So viel auch wieder nicht«, sagte ich. Und das stimmte, es hatte allerdings etwas anderes gekostet, nur fehlte mir dafür das richtige Wort. Meinem Bruder waren ebenfalls die Worte ausgegangen, und so saßen wir da und lauschten der Maschine, die mein Herz überwachte.
    AN DEM TAG , an dem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, prangte ein Foto des Notarztes auf der Titelseite des
St. Augustine Record
. Es nahm die obere Hälfte der Zeitung ein, war also nicht zu übersehen, wenn man am Zeitungskiosk vorüberging. Der Arzt stand vor dem Eingang zur Notaufnahme, eine Zigarre zwischen den Zähnen, der Kittel spannte an den Knöpfen. Er grinste.
    Charlotte hatte mich abgeholt, mir saubere Wäsche, einen Rasierapparat und einen Kamm mitgebracht. Sie wartete, bis ich mich geduscht und angezogen hatte, und nahm meinen Arm, als wir durch die Tür gingen. Sie hielt ihn noch immer, als ich das Bild sah und stehen blieb.
    »Was ist?« fragte sie.
    Über dem Foto des Arztes, quer über die Seite, stand die Titelzeile: SCHNELLES EINGREIFEN AM STRAND RETTET MANN AUS THORN .
    »Stimmt was nicht?« fragte sie.
    Ich schlug die Zeitung erst auf, als wir im Lieferwagen saßen und losfuhren.
    Fünf Schwesternschülerinnen aus Jacksonville und das Team aus der Notaufnahme des St. Johns County Hospital retteten am Mittwoch in gemeinsamer Anstrengung das Leben eines Neunzehnjährigen, der dem Schwimmteam der University of Florida angehört und beim Baden im Meer mit einem allergischen Anfall auf einen Quallenschwarm reagierte. »Diese Mädchen verdienen größte Anerkennung«, sagte Dr. William Polk. »Mr. Jack James, das Opfer, hatte außerordentliches Glück, dass sie sich zufällig am Strand aufhielten.«
    Ich schloss die Zeitung und meine Augen. Charlotte hielt vor einer roten Ampel. »Was ist?« fragte sie wieder. Als ich keine Antwort gab, legte sie eine Hand auf mein Bein, direkt über dem Knie, und ließ sie dort liegen. »Ist Ihnen schlecht?«
    »Woher wissen die, dass ich im Schwimmteam war?« fragte ich.
    »Sie waren im Krankenhaus«, sagte Charlotte.
    »Haben Sie es ihnen erzählt?«
    Charlotte schaute auf die Ampel und ließ ihre Hand auf meinem Bein. »Ich fand’s angebracht«, sagte sie.
    Ich schüttelte den Kopf und spürte das Gewicht der Zeitung deutlicher als ihre daneben liegende Hand. Sie tätschelte mein Bein, dann legte sie die Hand wieder ans Steuer. »Sie sollten im Auto nicht lesen«, sagte sie. »Davon wird Ihnen übel.«
    Einige Meilen weiter westlich schlug ich erneut die Zeitung auf und betrachtete noch einmal das Foto des Arztes. Ich konnte die Zigarre riechen und den süßen, öligen Geruch, den er auf der Intensivstation verströmte, als er nach mir gesehen hatte. Er gehörte zu jenen Ärzten, die als Original gelten und sich und all ihre Ausdünstungen daher für liebenswert halten.
    Offenbar retteten die Schwesternschülerinnen Mr. James, indem sie auf die betroffenen Körperteile urinierten. »Arme und Beine des Jungen waren mit Tentakeln übersät«, sagte Dr. Polk, »ebenso Rücken und Brust, das Gesäß, die Genitalien und sein Gesicht.«
    »Mein Gott«, sagte ich und schloss die Zeitung wieder.
    »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen im Auto nicht lesen«, sagte Charlotte.
    DAS WAR NOCH NICHT ALLES .
    Die Geschichte meiner Rettung durch Schwesternschülerinnen, die am Strand auf mich urinierten, weckte das Interesse eines Redakteurs im Büro der
Associated Press
in Orlando, der sie auf sechs Absätze kürzte und mit den übrigen Tagesnachrichten landesweit verschickte. In dieser Fassung gelangte sie durch die
Associated Press
in die Büros von tausendfünfhundert Zeitungen überall in den Vereinigten Staaten und Kanada, wo andere Redakteure sie nach den jeweiligen Platzvorgaben und Geschmacksvorstellungen zurechtstutzten, ihr eine launige Überschrift verpassten und sie als eine Art Gegenmittel für die schlechten Nachrichten des Tages verbreiteten. ALTBEWÄHRTES HEILMITTEL RETTET GESTRANDETEN SCHWIMMER .
    Dies war nicht die peinlichste Schlagzeile, die ich zu

Weitere Kostenlose Bücher