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Paperboy

Paperboy

Titel: Paperboy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pete Dexter
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mir durch den Kopf gegangen war, etwas, das mich selbst dann noch beschäftigt hatte, als ich den Sanitätern über den Hotelflur gefolgt war.
    Ich wusste nicht, ob Ward sich damit abfinden konnte, am Strand spazieren gegangen zu sein. Ich war mir nicht sicher, ob er lügen konnte.
    DEN GANZEN NÄCHSTEN TAG saß ich im Krankenhaus an seinem Bett. Ward hatte einen Schädelbasisbruch und durfte deshalb keine Schmerzmittel bekommen. Charlotte kam und ging und ließ Blumen und ihre medizinischen Ansichten da. Falls sich ihr Verhältnis zu meinem Bruder durch die Schlägerei im Hotel verändert hatte, war davon nichts zu spüren. Für sie war es gerade so, als wäre er an jenem Abend am Strand spazieren gegangen.
    Für mich war es nicht so einfach, auch wenn ich begriff, dass sich Ward nicht verändert hatte, da die Veränderung sich einzig auf mein Bild von ihm beschränkte.
    Er war schließlich durch ein abgestürztes Flugzeug gegangen, während Yardley Acheman, der regelmäßig mit Frauen schlief, genug Gründe gefunden hatte, um es nicht zu betreten. Noch am selben Abend, an dem ihn die Burschenschaftler zusammengeschlagen hatten, war er zu ihrem Haus auf dem Universitäts-Campus zurückgekehrt. Er war zu den Van Wetters marschiert, mitten in die tiefsten Sümpfe. Und nichts davon änderte sich, nur weil es ihn an einem Abend in Daytona Beach nach Matrosen verlangt hatte.
    »Hör zu«, sagte ich, aber dann wollten mir die Worte nicht einfallen. Es war lange still im Zimmer, und ich fragte mich, ob er mir noch zuhörte.
    »Hör zu, es ist mir egal, was du mit diesen Typen getrieben hast, das ist völlig unwichtig.«
    Er bewegte langsam den Kopf, drehte ihn auf dem Kissen, bis er mich durch den Schlitz ansah, der in den Bandagen um seine Augen war.
    »Wie schlimm ist es?« fragte er. Seine Stimme klang heiser, und ich konnte ihn kaum verstehen.
    »Ziemlich schlimm«, sagte ich.
    Er wartete, blinzelte.
    »Man wird dich noch mal operieren müssen, um dein Gesicht wieder herzurichten.«
    Er nickte, als hätte er das bereits gewusst. »Es ist wie das Meer.« Er zog die Hand unter dem Laken hervor und tat, als ließe er sie über eine Reihe kleiner Wellen gleiten. Dann lächelte er und entblößte die schwarze Blutkruste in seinem Mund. »Wir sollten schwimmen gehen«, sagte er.
    Seine Hand fiel zurück, und gleich darauf ging sein Atem tief, trocken und gleichmäßig, und ich wusste, dass er eingeschlafen war.
    Als ich hinausgehen wollte, um einen Schluck Wasser zu trinken, schlug er die Augen wieder auf. Ich setzte mich und sagte: »Die Polizei hat sie geschnappt. Wusstest du das?«
    Er schüttelte den Kopf, aber es interessierte ihn nicht.
    »Einen haben sie zusammengeschlagen, von dem anderen weiß ich nichts. Ich glaube, sie hatten früher schon mal Probleme mit Matrosen.«
    Meinen Bruder kümmerte es nicht, was mit den Männern geschah, die ihn beinahe umgebracht hatten. »Sie mussten sie laufen lassen«, sagte ich, »sonst hätte die ganze Geschichte in der Zeitung gestanden.«
    Es war still im Zimmer, und dann schrie irgendwo am anderen Ende des Flurs eine Frau.
    »Als du im Meer in den Quallenschwarm geraten bist«, sagte er schließlich, schwieg dann aber, als könnte er kein Bild für das finden, was er als Nächstes sagen wollte. Oder als ob seine Kehle so trocken wäre, dass er die Stimme verloren hatte.
    »Soll ich dir eine Cola holen?« fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Als du im Meer in den Quallenschwarm geraten bist«, sagte er noch einmal, »war das so ähnlich?«
    Ich sagte, ich wüsste es nicht. »Aber es war schlimm. Ich glaube, es ist immer schlimm, wenn man dicht davor ist zu sterben.«
    »Eine ziemliche Strapaze«, sagte er und lächelte wieder. Hinten hatte er noch ein paar Zähne. Seine Lippen waren geschwollen, und er konnte sie zum Reden kaum öffnen. »War dir nach Weinen zumute?« fragte er ein wenig später.
    Ich starrte ihn einen Augenblick an und versuchte, mich zu erinnern.
    »Nicht in dem Moment, als es passiert ist«, fügte er hinzu, und seine Worte schienen sein Inneres zu enthüllen, »aber hinterher, als es vorbei war. Hast du da geweint?«
    »Ja, das macht es mit einem«, sagte ich.
    Er nickte, und einen Moment lang glitzerte eine Träne in seinem unbandagierten Auge. Als er blinzelte, lief sie ihm über die Wange.
    »Es hat was Trauriges, beinahe zu sterben«, sagte ich. »Das merkt man später.« Auf diese Weise vereint, waren Ward und ich uns an diesem Nachmittag eine kurze

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